Freitag, 13. Mai 2011

Der Gancho

Vor vielen Jahren, in einem Land, dessen Name nichts zur Sache tut, in welchem es aber so ist, dass die Frauen Männer zum Tanzen auffordern, zumal wenn sie Tanzlehrerinnen sind, war es so, dass ein älterer, einsamer Mann als erster in die Milonga gekommen war und gelangweilt in einer Ecke sass. Natürlich forderte ich ihn auf. Auf dem Weg zur Tanzfläche dachte ich über die bevorstehenden 12 Minuten der Tanda nach, es würden wahrscheinlich nicht die schönsten Tangos meines Lebens werden, aber sie liessen sich bestimmt angenehm gestalten. Und ich dachte weiter: “Dieser Mann investiert Zeit, Geld und Energie, um die Schritte zu lernen, die er zum Tanzen braucht. Er duscht sich vor der Milonga, parfümiert sich und zieht sich nett an, um angenehm zu sein. Er mag kein Wahnsinnstänzer sein. Aber das ist egal. Ich werde ihn mögen.“

Und ich habe ihn gemocht. Wirklich, von Herzen gern gemocht. Bis er mir den ersten Voleo angedeutet hat. Und nach dem ersten Gancho habe ich ihn gehasst. Es blieb natürlich nicht bei EINEM Gancho. Lauter schreckliche Stösse, die in einer organischen Tangosprache nichts heissen, von denen ich aber verstehe “aha, er will, dass ich mein Bein jetzt hoch um seine Hüften schlinge, obwohl er mich aus der Achse schiebt, obwohl es schrecklich unelegant aussehen wird, obwohl es in jeder Hinsicht jenseits von gut und böse ist.“ Was tut man dann? Man verweigert den Gancho und macht stattdessen eine kleine Verzierung. Manche Männer verstehen es sofort, andere wiederholen den Stoss ein paar Mal, bevor sie es merken. Meiner liess nicht nach. Er schob mich erneut, mit einer Kraft, derer ich ihn nicht für fähig gehalten hatte, über sein gebeugtes Knie und sagte dazu: “Doch, doch! Das war ein Gancho! Mach ihn! Komm, mach ihn jetzt!“ Ich schaute ihn verzweifelt an (DAS hätte ich nicht erwartet) und sagte so etwas wie “Ach, weisst du, mein Kleid ist zu kurz. Darum geht das nicht. “Na sowas...“ sagte er. Und machte trotzdem genau so weiter. Da gehen einem folgende Gedanken durch den Kopf: “Vergewaltigt werden wäre schlimmer. Denn so kann ich zumindest die Takte zählen und weiss, wann es vorbei ist... Ausserdem könnte ich nach drei Tangos sagen, dass ich mich um die Musik kümmern muss. Und zum DJ-Pult verschwinden. So bleibt mir ein Viertel der Qual erspart... Zum Glück sind sonst nicht viele Leute da, um mich in diesen ekligen Verrenkungen zu sehen... Ausserdem würde Geraldine Rojas auch mit diesem Mann gut aussehen. Natürlich würde sie nicht mit ihm tanzen. Aber wenn, dann würde sie gut aussehen...“ Manchmal, wenn es zu unerträglich wird, rezitiere ich im Kopf den Anfang der Ilias. Hatte in meiner Schulzeit genug Verse gelernt, um eine ganze langweilige Unterrichtsstunde totzuschlagen. Und die hat 40 Minuten. Eine schreckliche, Tanda, wenn man sie um den letzten Tango verkürzen kann, hat nur neun Minuten. Nur neun...

Wie, um alles in der Welt, kommen manche Leute darauf, dass es im Tango um schlecht ausgeführtes, unästhetisches Bein-origami geht? Natürlich sind Ganchos und hohe Voleos und Sprünge schön, aber man muss sie können. Hart trainieren, damit der Körper beweglich genug ist und die Technik stimmt. Um dann auf einer Bühne zu tanzen. Wenn das nicht geht – kein Problem. Im Tango ist die Akrobatik nebensächlich und vollkommen verzichtbar. Auf jedem Flyer, sei es das der letzten Provinzschule, steht das Zitat gedruckt, das zur Floskel avanciert ist “Tango ist die getanzte Umarmung“.  Wo bleibt die Umarmung, wenn mich einer mit Fingern, Handgelenk und sogar Ellenbogen schiebt um mich zu zwingen, etwas zu tun, das sich schlecht anfühlt?

Natürlich, es gibt Frauen, die davon schwärmen: “Mein Tanzpartner, der führt mich zweifache und dreifache Ganchos.“  Und Voleos, die machen sie selber, mit den Knien schön auseinander, ohne, dass irgendjemand etwas führen muss.

Ich erinnere mich an ein italienisches Pärchen, um die 70, in einer Privatstunde. Der Mann strahlte stoische Ruhe aus, während die Frau die Anleitung gab: “So Schatz, jetzt tust du deinen Fuss hier hin, dann gehe ich drüber und... daaaann... dann mache ich den Gancho!“ Da schaute sie befriedigt zu mir hin als wollte sie sagen “siehst du, sogar DAS können wir schon!“

Kurz nach der schrecklichen Tanda in jenem Land, dessen Name nichts zur Sache tut, tanzte ich mit einem Schüler. Der war noch ganz neu und konnte nichts ausser geradeaus gehen, ins Kreuz führen und ein paar anderen, einfachen Elementen. Aber er tat das so schön, in einer beinahe vollkommenen Umarmung, dass ich die Augen schloss und den Moment geniessen konnte.  Denn wie... so oft im Leben geht es nicht um “was“, sondern um “wie“, und man würde sich so sehr wünschen, dass die Männer es verstehen.