Aus der Reihe: Das politisch inkorrekte Leben von dekadenten Paradiesvögeln
Die Geschichte von Julia und Vicente
eine Geschichte von Joelle K.
Sie sahen sich zum ersten Mal in Buenos Aires, in der Confiteria Ideal, darin stimmen die beiden Fassungen überein.
“Sie wechselte gerade ihre Schuhe“ erzählt Vic “sie hatte etwas Spezielles. Sie fiel mir sofort auf.“
“Ein Freund aus der Schweiz – er war unser Fremdenführer“ erzählt Julia “ein Freund stellte ihn mir vor. Willst du – sagte er – den Argentinier kennenlernen, in den sich die Frauen verlieben? Und ich dachte – als ich ihn sah – o nein! Kann nicht sein. Dick und klein, eingebildet, schrecklich. Dann tanzten wir miteinander. Da war es um mich sowieso geschehen.“
Das konnte ich nachfühlen. Zu dem Zeitpunkt, da Julia es erzählte, konnte ich dieses “sowieso“ genau verstehen. Ich war ich durchaus der Meinung, dass es um eine Frau geschehen sein musste, sobald Vicente mit ihr tanzte.
Sie sahen sich noch ein oder zwei Male zufällig in den Milongas, danach fingen sie an, sich zu verabreden. Für den Abend. Das heisst, sie gingen nie zusammen hin, sondern getrennt. Weil Vicente überall Habitué war und Julia hübsch, bekamen sie immer sehr gute Tische. Im besten Fall in der ersten Reihe, aber so, dass sie sich gegenüber sassen, mit der Tanzfläche dazwischen. Sie mussten nur noch zueinander schauen, nicken, aufstehen. Dann wartete Julia, bis er bei ihr war, denn eine Frau, die etwas auf sich hält, läuft auf der Tanzfläche nicht zum Mann hinüber.
“Ich wollte nur noch mit ihm tanzen“ erzählte Julia später. “Und er mit mir. Alle anderen, die mich aufforderten, wurden zu Luft. Ich sah sie nicht mehr.“
Vicente lud sie zu einem Kaffe ein. Aber das war das no-go, auf das man sie noch in der Schweiz vorbereitet hatte:
“Wenn einer dich zu einem Kaffe einlädt, ist es so, dass er in Wirklichkeit mit dir ins Bett will. Wenn du annimmst heisst es, dass du auch willst.“
Nicht mal da, wo es ganz klar war, dass beide wollten, nahm Julia an. Denn sie hatte sich zwar verliebt – sehr, sogar - aber sie war treu. Und sie war eben verheiratet. Am letzten Abend trafen sie sich schon um fünf in der Confiteria Ideal und zogen danach weiter, von Milonga zu Milonga, die ganze Nacht durch, um keinen Kaffe trinken zu müssen. Nachdem um fünf auch die Viruta zuging, brachte Vicente Julia in ihr Hotel. Vor dem Eingang küsste er sie. Da dachte Julia darüber nach, dass sie in ihrem Leben noch nie etwas Verrücktes getan hatte. Und entschloss sich, es zu ändern.
“OK“ sagte sie zu ihm “du darfst mit, aber ich werde nicht mit dir schlafen. Du kannst bei mir bleiben, aber mehr ist es nicht.“
“Es hatte doch keinen Sinn “– erzählte sie später “in wenigen Stunden musste ich beim Flughafen sein. Wozu hätte ich es mit ihm weiter kommen lassen sollen? Was hätte es gebracht?“
Sie schliefen nicht miteinander. “Weil sie eben frigide ist“ erzählte mir Vicente. Oder “weil sie eine anständige Frau ist, nicht eine Schlampe wie du.“ Je nach Stimmung.
Am nächsten morgen war sie weg. Auf dem Weg zum Atelier – Vicente hatte vieles verloren, seitdem er alle Nächte durchtanzte, aber damals arbeitete er noch: Nach elf und morgens und nie später als zwei Uhr nachmittags, denn da kann man schon tanzen gehen- Auf dem Weg zum Atelier schaute er zum schmalen Himmelsstreifen über der Altstadtgasse hoch – gerade in jenem Moment flog eine Swissairmaschine darüber. Da überkam ihn tiefe Traurigkeit. Er verlor die Lust zu arbeiten. Viele Monate danach ging er kaum aus dem Haus. In den Milongas sah man ihn nie.
Julia, ihrerseits, versuchte, alles zu vergessen. Konnte sie nicht. Beim Auspacken der Geschenke und vor allem, wenn sie die CD hörte, die sie von Vicente bekommen hatte, brach sie wieder und wieder in Tränen aus.
“was ist los?“ –fragten die anderen.
“nichts“ sagte sie “Erinnerungen.“
Aber es war verdächtig, dass Erinnerungen so intensiv sein sollten. Dann, eines Tages – sie war gerade mit ihrem Mann im Kino gewesen – sagte sie es ihm. Nicht direkt. Und nicht sofort. Und ausserdem war nicht so viel zu sagen. Dass sie sich in ihn verliebt hatte, war eine Sache. Aber geschehen war fast nichts. Sie hatten nicht miteinander geschlafen. Der Ehemann trug es mit Fassung. Man lebe nicht mehr im Mittelalter, sagte er, es käme keine Inquisition, die einen verbrennt, wenn man nicht nach den Prinzipien der Kirche handelt. Er zog demonstrativ, aber guten Mutes, seinen Ehering ab. Man braucht keine Requisiten. Nicht heutzutage. Und eine moderne Ehe ist etwas ganz anderes. Sie braucht vor allem eines: Freiheit. Julia war erleichtert.
In der Nacht wachte ihr Mann auf, ging ins Bad und erbrach. In den nächsten Tagen konnte er nichts essen, nichts trinken, alles, was er schluckte, würgte er wieder hoch. Julia fühlte sich schuld an seiner Misere, aber es gab nichts, das sie tun konnte. Sie konnte sich nicht mehr entlieben.
Sie hatte ihre Freundin aus Bs As, eine Australierin, die schon lange dort lebte und tanzte, damit beauftragt, Vicente zu finden. Nach seiner email-Adresse zu fragen. Die Australierin ging zu jeder Milonga, die man erdenken konnte. Nirgends eine Spur. Sie fragte nach ihm. Keiner wusste was. Hätten sie etwas gewusst, hätten sie auch nichts gesagt, denn das wäre Verrat. Doch das wusste sie nicht. Sie war eben Australierin. Eines Tages, unversehens, lief er ihr über den Weg:
“Hallo, “ – “sagte sie, dich suche ich schon lange! Wo hast du nur gesteckt?“
“Nirgends“ – antwortete er. Keine Lust, auszugehen. Wieso. Ist was passiert ?“
”Nein, nur, dass dich Julia gesucht hat.“
”Julia’” Vicente tat so als verstünde er nichts. ”Ach ja, und wozu?
”Keine Ahnung, vielleicht hat sie Arbeit für dich, in Europa.”
”na gut- sagte er. Dann gib mir ihre Adresse. Wir schauen weiter.”
Sobald er wieder zuhause war setzte er ein yahoo-Konto auf, er hatte damals noch keines. Und schrieb ihr. Halb englisch, halb Spanisch. Sie antwortete und fing an, Spanisch zu lernen. Ab da schrieben sie sich die ganze Zeit. Vicente hatte Gefallen daran und eine besondere Eignung dafür entwickelt. Bald schrieb er nicht nur an Julia, sondern übernahm auch die Korrespondenz anderer Milongueros mit ihren europäischen Geliebten. Wie das gehen konnte, weiss ich nicht, denn die Briefe, die er später mir schrieb, waren schlecht aufgebaut, platt und von ergreifender Einfältigkeit. Aber manchmal entsteht ein Zauber, den man sich nicht erklären kann.
Da gab es Jorge, der auch alle Nächte durchtanzte und nicht arbeitete, weil es sich für einen Milonguero nicht gehört, profanen Tätigkeiten nachzugehen. Jorge hatte eine Holländerin kennengelernt, und als sie weg war, bat er Vic, ihm mit dem Schreiben zu helfen. Vicente nahm an. Später, als sie verliebt zurückkam, lud Jorge, überglücklich, den Freund zum Essen ein. Am Schluss des Abends nahm die Frau Vicente bei Seite:
“gib es zu“ – sagte sie zu ihm – “du hast die Briefe geschrieben, nicht er. Ich bin mir darin ganz sicher.“
Das erzählte er fortan gerne, und Julia erzählte es auch, und ihre Geschichte geht eine Weile gemeinsam weiter. Erst später zweigt sie sich ab in zwei Fassungen.
Julia hatte zugegeben, dass sie sich verliebt hatte. Und, dass sie mit Vicente Korrespondenz führte. Um ihre Ehe zu retten, entschlossen sie sich – Julia und ihr Mann – auf Weltreise zu gehen. Sie kamen nicht weiter als Kuba, da leuchtete ihr ein, dass sie ohne Vicente nicht leben konnte. Sie wollte zu ihm fliegen. Komme was will. Ihr Mann schlug ihr vor, es für zwei Wochen zu versuchen.
“Ich warte auf dich so lange. Wenn du merkst, dass es sich nicht lohnt, komm zurück. Aber ich warte nicht länger als zwei Wochen. Wenn du bis dahin nicht zurückkommst, ist alles aus.“
Julia kam nicht zurück. Sie blieb bei Vicente. Ab da gibt es zwei Fassungen der Geschichte. Denn Vicente hatte nicht damit gerechnet, dass sie wirklich kommt. Und bleibt. Er hatte ihr geschrieben, ja, dass sein Leben ohne sie keinen Sinn mache. Er war über den Massen verliebt und über die Aussichtslosigkeit dieser Liebe verzweifelt. Aber dass sie alles hinschmeissen und nach Buenos Aires kommen würde? Das hatte er gefordert, ja, aber eher... generisch. Nicht wirklich-wirklich.
Sie war jetzt da. Abgemagert und krank. Sie 23, er 49. Hatte sich aber als 35 ausgegeben. Ihre langen, schwarzen, gelockten Haare waren das Üppigste an ihr. Ansonsten sah sie aus wie ein kleiner Junge. Hübsch und scheu, mit grossen blauen Augen. Sie wohnten zuerst in einem Hotel, denn Vicente wollte sie seinen Kindern noch nicht vorstellen. Seiner geschiedenen Ehefrau auch nicht. Dann nahmen sie sich eine Wohnung, zuerst eine schäbige, nachher eine schöne.
“Aber das muss eine schöne Zeit gewesen sein?“ - fragte ich später.
“Ja,“ – sagte er, “aber es war schon damals das Gleiche: sie wollte keinen Sex. Zuerst gar keinen, weil sie krank war. Nachher – eben, wie jetzt. Einmal im Monat. Nicht vor neun, weil da Tag ist. Nicht nach zehn, denn da schläft man. Nicht woanders als im Ehebett, denn für alles gibt es einen Platz und eine Zeit.“
“Und, wenn es so war, wieso hast du nicht früher reagiert? Und Schluss gemacht?“
”Zuerst dachte ich, dass sie sich ändert“ – sagte er. “Dass sie lernt. Und ausserdem hatte ich sie lieb, hatte ein schlechtes Gewissen, weil sie für mich so vieles aufgegeben hatte. Und Frauen für Sex hatte ich immer genügend, das war nie ein Problem.“
Zwei Monate später flog Julia nach Zürich, um sich scheiden zu lassen und alles abzuschliessen. Vicente konnte nicht mit, es war zu teuer. Und er war überzeugt, sie würde nicht zurückkommen.
“Da rief ich an“ erzählte sie später, und – Überraschung – V. war in Miami. Ich habe mich mordsmässig aufgeregt. Kein Geld, um mit mir nach Zürich zu kommen, aber genug Geld für Miami. Aber er hat es kaum ausgehalten, als ich weg war, dachte sogar, ich würde zu meinem Mann zurück. Weil der reich ist und V. arm. Und in Miami hatte er alte Freunde, die führten eine kleine Pension.“
In der anderen Fassung lautete es so: “Eine reiche Amerikanerin – ich kannte sie schon lange – hatte mich nach Miami eingeladen. Flug, 5Sterne-Hotel, jeder Luxus, den man sich vorstellen kann. Nur, um sie zu begleiten. Ich konnte nicht gut weg – Julia war da. Eines Tages sagt sie mir aber, sie müsse nach Zürich fliegen. Um dort ihre Sachen zu regeln. Ich dachte, sie kommt nicht wieder, und ja, ich war schon traurig. Denn offensichtlich war ihr das Geld, das ihr Ehemann hatte, wichtiger. Aber das Gute daran war – ich konnte ganz entspannt und ohne Alibi nach Miami.“
Nicht, dass V. ungeübt darin gewesen wäre, Alibis zu basteln. Aber je weniger man erfinden muss, um die Wahrheit zu verhüllen, desto besser. Die Leute glauben sowieso das, was sie glauben wollen und nicht das, was wahrscheinlich ist.
“War die Amerikanerin hübsch?“ – fragte ich.
“Nein, ” – sagte er. “Aber auch nicht hässlich. Ich hätte sie heiraten können – dann hätte ich mich nie wieder um Geld kümmern müssen. Aber das mag ich nicht. Ich will frei sein”.
“Julia hast du doch schliesslich auch geheiratet.”
“Ja, aber nicht für Geld. Ich hatte ein schlechtes Gewissen. Sie hatte wirklich vieles für mich gemacht. Und hatte sich scheiden lassen. Sie war immer so – geradeaus. Nicht wie du. Keine halben Sachen. Und ausserdem...” – V. zeigte mir seine linke Hand. Fasste mit dem Daumen und Zeigefinger der rechten Hand den Ehering und begann zu drehen. Der Ring bestand aus zwei Teilen – der äussere Teil, aus hellerem Metall, liess sich drehen, während der innere Teil unbeweglich den Finger umfasste. “siehst du”- fuhr er fort. Das Rad der Freiheit. Als ich diese Ringe sah, wusste ich sofort, wir mussten sie haben. Als Symbol dafür, dass meine Freiheit nicht mit dem Ja-Wort enden kann.”
Die Geschichte der Ringe kannte ich schon von Julia, aber anders: “Wir hatten bei einem Goldschmied schon Ringe bestellt. Aber dann sah V. in einem Schaufenster diese beweglichen Ringe. Sie waren so schön, so... speziell, wir wussten sofort: das waren die richtigen. Wir riefen unseren Goldschmied an, er hatte den Auftrag nicht ausgeführt. Mit einem kleinen Unkostenbeitrag liess er sich zufriedenstellen.”
Julia nahm einen Job in einer Sprachschule an. Keine Gruppenkurse, aber sie gab Privatstunden. Ihr Spanisch war nicht gut, aber sie konnte Deutsch unterrichten. Und Englisch. Sie scheint von den täglichen Abenteuern ihres Mannes nichts gewusst zu haben, fand es auch nicht seltsam, dass er abends mit dem Lieferwagen, indem ein Doppelbett installiert war, ins Zentrum fuhr. Und morgens nach hause kam. “Er hat mich sehr gern“ – sagte sie mir später – “und er weiss, dass ich sofort weg bin, falls er mich betrügt. Dass er mich nie wieder sieht. Das riskiert er nicht. Ausserdem ist er extrem eifersüchtig.“
Sie hatten einen Hund, der war klein und hatte lange, helle, gewellte Haare. Vicente ging mit ihm immer am Wochenende spazieren und kam spät zurück, weil er im Chinesischen Viertel halt machte, wo man samstags im Pavillon draussen tanzen kann, was er nicht zugab. Julia wusste Bescheid, aber es war ok – tanzen darf man ja. Dann kam die Krise, Vicente wollte in die Schweiz, Julia nicht, da verkauften sie ihr Haus, packten ihr Baby, setzten den Hund aus und flogen nach Zürich. “In der Schweiz darf man keinen Hund in der Wohnung halten.“ – hatte die Schwiegermutter gesagt.
Ob ich ein schlechtes Gewissen hatte? Nein. Ich habe Julia nicht betrogen, ihr Mann tat es. Den Kontakt zu ihr unterbrach ich so vollständig wie möglich, sobald Vicente und ich eine Affäre hatten. Und ich war auch schlau genug, den Frauen keine Schuld zu geben, mit denen er mich, Jahre später, reihenweise, betrog. Was ich natürlich auch erst spät verstand, lange nachdem auch unsere Geschichte mehrere Fassungen bekommen hatte. Denn vorerst hatte ich meine ganze Phantasie und Geisteskraft eingesetzt, um das zu glauben, was ich wollte. Nicht das, was wahrscheinlich war.