Montag, 19. März 2012

Laufen lernen. Teil2.

Walti, den viele kennen würden, würde ich seinen Nachnamen nennen – aber er mag es lieber inkognito, also bleibe ich beim Vornamen, mit dem blossen Hinweis darauf, dass er zwölf Mal oder so Blackpool-Sieger war – Walti kommt mich manchmal besuchen. Wir trinken Kaffe, er bringt Gipfeli mit und wir unterhalten uns über Sinn und Unsinn im Tanzgewerbe. Vor dem Tango tanzte ich Standard/Latin und er tanzt jetzt manchmal Tango, so können wir uns mehr oder minder verstehen.
Bevor der erste Kaffe fertig ist, geraten wir uns, zumindest mit der Sprache, an die Haare. Unser erstes heftiges Streitthema waren die Vorwärtsschritte. Walti war für Fersenschritte - so, wie im Leben. Ich war für Ballenschritte.

”Was ist natürlich?” fragte Walti. ”Wie läuft der Mensch nach vorne? Über den Ballen oder über die Ferse?”
”Über die Ferse.” Antwortete ich. ”Aber beim Tanzen ist es anders.”
”Wieso?”
”Einfach so.”
”Eben nicht. Es ist nicht anders. Wenn man den Fuss streckt, um über den Ballen zu laufen, spannt man das freie Bein an. Völlig unnötig. Der Schritt wird weniger schön.”

Danach schauten wir uns youtube-Videos an. Wir fanden beide Beweise. Ich für meine Theorie, Walti für seine. Es schien keine wirkliche Lösung zu geben, na ja, es schien nicht nur. Es gibt keine. Der Mann kann im Tango über Ferse oder Ballen vorwärtslaufen. Trotzdem machte ich eine 180Grad Wendung. Ich würde nie wieder Ballenschritte unterrichten.
Walti hatte Recht. Nicht immer, versteht sich... Mit den Fersenschritten aber schon. Auch nicht ganz. Aber es ist so: ein ausgebildeter Tänzer kann wunderschön über den Ballen nach vorne laufen, wie eine Katze. Jemand, der gerade lernt, Tango zu tanzen, und noch nie in seinem Leben getanzt hat, kann das nicht. Um ehrlich zu sein: Ich habe es in keinem einzigen Fall geschafft, einem erwachsenen Mann schöne, überzeugende Ballenschritte beizubringen. Aber: schöne Fersenschritte sind in keiner einzigen Hinsicht weniger schön. Im Gegenteil. Sie wirken echter und ... na ja, männlicher. Carlitos Espinoza, der Tänzer, den ich zur Zeit am meisten bewundere (ok, nicht zuletzt darum, weil man Javier Rodriguez und Geraldine nicht mehr in Echtzeit bewundern kann...) – Carlitos läuft immer über die Ferse. Nicht, weil er es nicht anders könnte. Sondern, weil es verdammt gut aussieht. Schöne, lange, entspannte, natürliche Schritte. In perfekter Verbindung mit der Partnerin. Gibt es etwas Besseres? Ich glaube nicht.

Wenn ich meinen Schülern das Laufen beibringe sage ich heute: lauft. So wie immer. Ich lasse sie, mit der Frau am Arm, nach vorne laufen, so, als gingen sie an einem schönen Sommernachmittag zum See. Entspannt, aber zügig. Das tolle ist: DAS können sie schon. In perfekter Verbindung mit der Frau. Sie können anhalten, sie können wieder loslaufen. Wenn sie das machen, was sie immer gemacht haben und nicht versuchen, den Oberkörper nach vorne oder nach hinten zu neigen, das Bein so oder so zu schwingen, den Solarplexus zu verschieben. Die Herausforderung liegt darin, immer noch das Gleiche zu tun, auch wenn die Frau davorsteht, einen umarmt, und nach hinten laufen muss. Denn DAS ist nicht natürlich: jemanden vor sich zu haben und in diese Person reinzulaufen. Die meisten Männer entwickeln vielfältige Strategien, um NICHT in die Frau reinzulaufen: breitspurig gehen. Winzig kleine Schritte. Hintern raus strecken. Es gibt Männer, die tanzen seit zwanzig Jahren, schieben mühevoll ihre Sacadas, knorzen die Giros, lernen immer neue Figuren dazu. Aber es wird nie gut, denn sie haben es nicht geschafft, die erste grosse Hemmung zu überwinden: nach vorne laufen. In die Frau hinein. Den Platz der Frau mit jedem Schritt einnehmen. Denn: sie läuft zurück. Wenn man ihr ausweicht, kann sie keine schönen Rückwärtsschritte machen. Der Trick ist: nicht in den Standfuss reinlaufen. Das tut weh. Aber der freie Fuss, der geht weg. Um schön beieinander zu bleiben, muss man ihn suchen. Nicht meiden.

Dienstag, 13. März 2012

Laufen lernen. Teil 1.

Es gibt wenig allgemeine Wahrheiten im Tango, alles, was man so machen kann, kann man auch anders machen, jeder hat einen eigenen Stil und wenn man ein Konzept hat, so hat man es sich meistens selbst zusammengebaut. Aber in einem sind wir uns alle so gut wie einig: Tango ist Laufen. Mit der Frau und mit der Musik. Und so, dass man die anderen Paare auf der Tanzfläche nicht behindert oder gefährdet...

Aber, WIE läuft man? DA gehen die Wahrheiten auseinander. Hier ein Vorschlag, von dem kaum einer sagen würde, dass er falsch sei. (Und wenn doch – bitte, kommentiert. Kritik und andere Meinungen sind AUSDRÜCKLICH erwünscht.) Achtung: anstrengende Lektüre. Der nächste Absatz kann auch übersprungen werden.

1.    1. ganzes Gewicht auf ein Bein (Standbein), so, dass das freie Bein frei wird. Knie sind nicht durchgestreckt, sondern locker
2.    2. Projektion: freies Bein schwingt nach vorne (räumlich sehr kleine Bewegung), Solarplexus macht eine kleine Rotation nach oben und seitlich, so, dass der Oberkörper in eine leichte Kontraposition zu den Hüften gerät.
3.    3. Verlängerung: Durch Verschieben des Körpergewichts nach vorne und Strecken des Standbeines (Abstossen mit Hilfe von Knie und Fuss) wird der eigentliche Schritt gemacht, das Vorankommen im Raum.
4.    4. Ankommen: Aufrichtung der neuen Achse – Hüften, Schultern und Kopf kommen genau über dem Ballen des neuen Standfusses zu stehen. Das andere Bein fällt entspannt unter die Hüften, die Füsse sind wieder beieinander.

Nicht falsch ist eine Sache. Die andere ist: ich würde, wenn ich die Möglichkeit hätte, mich so gern bei den Generationen von Schülern entschuldigen, denen ich es so beigebracht hatte. Nicht falsch ist nicht gut genug. Was war das Problem? Ich stand während meiner Tanzausbildung stundenlang vor dem Spiegel. Studierte die Bewegung. Wurde von meinem Lehrer gequält, so lange, bis es ok war. Dass ich es erst im Alter von siebzehn tat und nicht schon viel früher, war gefährlich spät. Aber ich hielt durch. Als ich – Jahre später – anfing, Tango zu tanzen, war ich schon Tänzerin. Ich konnte mich bewegen. Nach einem halben Jahr gab ich Unterricht, zusammen mit meinem ersten Tangolehrer. Ohne irgendeine Ahnung vom Unterrichten zu haben. Asche auf mein Haupt!

Später ging ich nach Bs As, in alle Kurse, die ich zeitlich irgendwie besuchen konnte, versuchte zu verstehen, was einen guten Lehrer ausmacht. Denn man erkennt den Lehrer an seinen Schülern. Es gibt schlechte Tänzer, die hervorragend unterrichten. Gute Täzer, die katastrophale Lehrer sind. (Und natürlich auch die anderen zwei Fälle, wobei der eine dem Paradies entspricht, der andere – deutlich häufigere – der Hölle. Ich denke, ihr versteht... )

Aber das eigentliche AHA kam viel später. Ein alter Tänzer, den ich nach Zürich eingeladen hatte, bat mich, an einem schönen Nachmittag, das Fenster zu öffnen. Auf die Strasse zu schauen:

“Siehst du!” sagte er – ”sie können laufen. Alle Mensche können laufen. Die einen vielleicht ein bisschen schöner als die anderen, aber die Unterschiede fallen kaum auf. Sobald sie auf der Tanzfläche stehen, können sie das nicht mehr. Denn sie versuchen zu tanzen.”

Wenn ein Tänzer in seiner Ausbildung über Projektion und Verlängerung nachdenkt, analysiert er die natürliche Bewegung und versucht sie zu optimieren. Das tut er jeden Tag, stundenlang.

Wenn ein Tanzschüler, der mit vierzig Jahren noch nie getanzt hatte, der einmal pro Woche in den Unterricht kommt, seine Schritte in irgend welche Elemente unterteilen muss, wenn er gewisse Punkte an seinem Körper irgendwie verschieben muss, so ahmt er die natürliche Bewegung bestenfalls nach. Es wird nicht klappen. Er wird sich wie ein motorisch Behinderter durch den Raum schleppen. Aber: DIE NATÜRLICHE BEWEGUNG, DAS LAUFEN, BEHERRSCHT ER SCHON EIN GANZES LEBEN LANG! DENN ER HAT LAUFEN GELERNT, ALS ER EIN JAHR ALT WAR. Er läuft vielleicht weniger schön als sein Tanzlehrer. Aber das ist egal. Er kann laufen. Nachahmen ist wertlos. Niemand wird sich schöner bewegen im Versuch, sich wie ein anderer zu bewegen.

Wenn man es schafft, die Schönheit der natürlichen Bewegung ins Tanzen rüber zu retten hat man, meiner Meinung nach, sehr viel gewonnen. Fast alle Gelegenheitstänzer laufen schöner, als sie tanzen. Entspannt, in Achse, ohne Kraft auf das freie Bein anzuwenden, ohne die Beine so auseinanderzuführen, als hätte man in die Hose gemacht. Ohne in den Boden zu kleben, so, als liefe man im Sumpf. Ohne Rücklage und ohne das Hintern nach aussen zu strecken. Ohne die Schultern hochzuziehen und den Kopf nach vorne zu drücken.

Die gute Nachricht – es klappt. Mann kann das natürliche Laufen retten. Wir können alle laufen, darum können wir alle tanzen – schön tanzen – wenn der Fokus von Anfang an richtig ist und das Coaching geeignet. Ich werde in den kommenden Posts meine Erfahrungen schildern.

Montag, 12. März 2012

Spielregeln... Teil 3

Wir wissen alle, dass es eine Tanzrichtung gibt, wir wissen meistens auch ziemlich genau, welche. Trotzdem geschah es, dass ein Schüler eines Abends zu mir kam und irritiert sagte:

“Es stimmt nicht, was du uns immer sagst!”
“Wie bitte?” fragte ich.
“Das mit der Tanzrichtung. Dass alle in die gleiche Richtung tanzen. Das stimmt ja nicht.”

Ich erhob den Blick von der Musikanlage zur Tanzfläche und das, was ich sah, müsste man sich so vorstellen: Wie wenn zwei verschiedene Kräfte das Wasser in einem Becken in Wellenbewegungen versetzen, die gegeneinander gehen, so, dass sie am Beckenrand zurückgeworfen werden und sich beim zurückrollen wieder überschneiden, so tanzten die Paare buchstäblich ineinander und auseinander, in einer nicht nachvollziehbaren Dynamik, ohne dass eine allgemeine Tendenz oder Hauptrichtung auszumachen gewesen wäre. Mein Schüler hatte Recht. Ich blieb für einige Augenblicke sprachlos.

“Weisst du” – sagte ich, als ich die Stimme wiederfand – “es ist nicht immer so. Es sollte nicht so sein. Warte ab, der Abend beruhigt sich bestimmt.”

Ich suchte für die nächste Tanda die langsamsten, ruhigsten di Sarli-Stücke in meiner iTunes-Bibliothek aus, übersprang die anstehenden Milongas und verzichtete den ganzen restlichen Abend auf d’Arienzo und Biagi. Es wurde besser. Nach der Show gingen viele nach Hause, und die, die noch da waren, tanzten ruhig und geniesserisch, ohne viele Zusammenstösse.

Es war nicht das erste Mal, man hatte mich schon früher der falschen Auskunft bezichtigt.

“Es stimmt nicht, dass man auf einer Bahn, und zwar möglichst auf der äusseren, tanzen sollte. Alle tanzen so, wie es gerade Platz gibt. Vom Rand zum Zentrum und wieder zurück.”

Auch damals war ich sprachlos geblieben, denn jenes Pärchen – zwei begabte Schüler, die mir sehr lieb waren, hatten monatelang im Unterricht geübt, schön um die Tanzfläche herum zu tanzen. Sie kriegten es inzwischen gut hin – umsonst, wie es ihnen erscheinen musste, denn sie hatten Recht. Kaum einer – und es war eine der schönen, zivilisierten Milongas von Zürich – kaum einer tanzte so. Es gab zwar eine Tanzrichtung. Aber keine Bahnen.

Es nützt wenig, zu sagen: In Buenos Aires ist es aber so. Wir sind nicht in Buenos Aires. Sie werden wahrscheinlich kaum, und wenn, dann höchstens alle paar Jahre für zwei Wochen nach Buenos Aires fliegen. Sie müssen hier tanzen können. Und hier heisst es – da, wo es gerade Platz gibt und wenn möglich nicht hinter einem jener Tänzer, die öfter an mehr oder minder blutigen Unfällen beteiligt sind.

Aber eine allgemeine Wahrheit lasse ich mir nicht nehmen:

“Bitte, bitte! Fangt nicht mit einem Rückschritt an! Nie. Ihr könnt kaum wissen, wer hinter euch steht. Seite. Oder vorwärts. Oder – etwas besonderes – rechts an der Frau vorbei. Aber bitte kein Rückschritt.”

Man glaubt es mir. Bis auf einen Schüler, der gerade aus Buenos Aires zurückkam.

“Die Lehrer, bei denen ich Privatstunden nahm, fangen immer mit dem Rückschritt an, wenn sie etwas zeigen. Was soll daran falsch sein? Wenn sie es dürfen, darf ich es auch.”

Freitag, 9. März 2012

Spielregeln... Teil 2 – die Cortina

Die Freiluftmilonga im chinesischen Viertel von Buenos Aires hat einen speziellen DJ.

“Wenn er verliebt ist, macht er gute Musik” – hatte man mir gesagt. “Wenn er sich gerade getrennt hat, kann es schrecklich werden...”

Manche meiner Freunde gehen hin und warten ein paar Tandas ab um herauszuspüren, ob der DJ gerade gut gelaunt ist, oder nicht. Es ist witzig – denn es scheint wirklich so zu sein – und gut gelaunte Abende in der Glorieta sind herrlich. Nun, ob gut gelaunt oder nicht, es kommt immer der Moment, da ärgert er sich DJ beträchtlich und ruft durchs Mikrofon:

“Tanzfläche verlassen! Bitte, verlasst alle die Tanzfläche! Wir machen erst weiter, wenn alle die Tanzfläche verlassen haben.”

Das kann er tun. In Europa geht das nicht – er würde die Gäste verärgern. Aber es gibt DJs die andere, wirkungsvolle Methoden erfunden haben, damit die Tänzer in der Pause von der Tanzfläche weggehen.

“Ich suche eine Cortina aus die nicht  - also wirklich nicht – tanzbar ist und lasse sie so lange klingen” – erzählte mir ein Argentinier, der in Genf wohnt – “bis alle von der Tanzfläche weg sind. Ich warte seelenruhig. So lange, wie es braucht. Tanzmusik gibt es erst wieder, wenn alles frei ist. Das funktioniert! Na ja, überall auf der Welt, nur nicht in Zürich.”

Ich schaute ihn erstaunt an: “Wieso denn nicht?”

“Tja” fuhr er fort und schmunzelte. “Manche fangen an, die Cortina zu tanzen. Auch wenn es die Jahreszeiten von Vivaldi sind.”

Wieso ist es so wichtig, dass die Tänzer das Parkett verlassen, sobald die Cortina – die Pausenmusik – ertönt? Sogar dann, wenn sie unbedingt mit dem gleichen Partner weiter tanzen wollen? Ganz einfach: Wenn die Tanzfläche voll ist, haben jene, die sitzen, keine Chance auf Blickkontakt mit denen, die woanders sitzen. Oder stehen. Ohne leere Tanzfläche funktioniert der Cabeceo nicht. Das ist ärgerlich. Man kann es verhindern, indem man kurz weggeht. Auch wenn man mit dem gleichen weitertanzen will. Aber... wieso weiter tanzen?

Es kommt in vielen mitteleuropäischen Städten vor, dass man viele, viele Tandas nacheinander mit dem gleichen Partner tanzt. Ich verstehe nicht wieso. Weil es besonders schön war? Dann ist es doch angenehmer, wenn es etwas Besonderes bleibt. Wenn man das Vergnügen mit der Tanda beendet, so, dass man sich auf später oder auf ein anders Mal freut. Weil man üben will? Dann trifft man sich doch in einer Practica oder zum gemeinsamen Training.

Mir wurde es zum Anfang meiner Tango Zeit klar und deutlich eingebläut: Wenn du mehr als eine Tanda tanzt, heisst es, du willst etwas von dem Typen. Es brauchte eine oder zwei Eifersuchtsszenen beiderseits, danach war das korrekte Verhalten im Blut. Heute geht es nicht mehr um korrekt oder nicht, es ist einfach so, es macht Spass so. Nach einer beendeten Tanda eine weitere zu tanzen wäre es, wie wenn man mit jemandem einen Kaffe trinken gehen würde, mit dem man gerade einen Kaffe getrunken hat. Sinnlos.

Ein Freund – jener, der nur mit Cabeceo auffordert, auch wenn die Frauen nicht gewohnt sich, zu schauen, hat mir frustriert erzählt:

“Ich komme meist erst spät in die Milonga. Dann kann ich nicht tanzen, weil alle schon einen Partner haben und stundenlang weitermachen. Wenn ich es endlich schaffe, eine Frau einzuladen, ist sie beleidigt, weil ich nur vier Tangos tanze und mich dann bedanke. Dabei tue ich es aus Respekt. Für sie. Und sie versteht das nicht.”

Donnerstag, 8. März 2012

Spielregeln... (Fortsetzung von: Kampfsportart oder Umarmung)

Teil 1. - der Cabeceo

Als der Tango nach Europa kam sind einige Sachen aus dem Flugzeug in den Atlantik gefallen, und das ist schade. Der ocho cortado ist so eine dieser Sachen, dazu gibt es noch viel zu sagen, aber nicht jetzt. Deutlich schmerzhafter ist der Verlust der Regeln. Man weiss oft nicht, wie man sich in der Milonga zu benehmen hat. Und wenn man es weiss, hat man vielleicht Nachteile.

So wie ein guter Freund von mir, der sich weigert, zum Tisch zu gehen, und die Frauen wörtlich einzuladen. Er schaut sie aus einer gewissen Entfernung an, und wenn sie nicht zurückschauen, wenn sie nicht mit einem Nicken annehmen, dann tanzt er nicht. Er tanzt ganze Abende nicht. Viele halten ihn für arrogant. Ist er nicht.

Wieso ist es wichtig, dass das Auffordern über Blickkontakt – der Cabeceo – funktioniert? Weil Regeln nicht da sind, um das Leben schwieriger zu machen, sondern leichter. Das Auffordern auf Distanz hat für beide – Männer und Frauen – Vorteile. Wenn es nicht funktioniert, wird vieles viel, viel schwieriger.

Für die Männer: hingehen, über der ganzen Tanzfläche, zu einer Tänzerin, sie mit Wort und Geste auffordern, kann sehr peinlich sein, wenn sie nein sagt. Wenn alle zugesehen haben, dass man abgewiesen wurde, und als Abgewiesener weiterziehen muss. Manche Frauen ersparen die Peinlichkeit, tanzen gegen den eigenen Willen und ärgern sich. Andere sind nett und geben einen Vorwand. Ich bin müde. Meine Füsse tun weh. Nicht jetzt, später. Damit sagen sie aber: Nein, ich will nicht mit dir tanzen. Aber ich bin nett und sage irgend etwas, damit du nicht dumm da stehst. Das verstehen manche Männer wiederum nicht, und ärgern sich, falls die Dame kurze Zeit später mit einem anderen tanzt. Anstatt dankbar zu sein, dass sie freundlich war. So freundlich wie es ging. Mit jemandem tanzen, mit dem es nicht schön ist, ist für viele eine Qual.

In einem Land, in welchem das Auffordern mit dem Blick funktioniert, weiss der Mann: sie schaut mich nicht an, gut, sie will nicht mit mir tanzen. Er kann sich dazu ergänzen: sie ist eine arrogante Zicke, sie weiss nicht, was ihr entgeht, sie traut sich nicht, weil ich zu sexy bin. Alles recht. Aber: sie will nicht. So einfach. Alles Peinliche bleibt erspart.

In einem Land, in welchem der Cabeceo nicht funktioniert, weiss der Mann nicht: schaut sie nicht zurück, weil sie nicht weiss, wie das gemacht wird, oder will sie nicht mit mir tanzen? Männer, die sich weigern, es falsch zu machen, können ganze Abende stehen. Frauen, die es nicht kapieren, kommen um viele wunderbare Tänze. Schade für beide.

Aus der Sicht der Frau: Wenn ich in eine Milonga gehe, die ich nicht kenne, werde ich ganz sicher mehrere Tandas sitzen und schauen. Ich versuche herauszufinden, wer schön tanzt (und wer nicht) und versuche mir die Leute ein bisschen zu merken. Danach kann ich genau den Mann anschauen, mit dem ich gern tanzen würde. Ich bin nicht ausgeliefert und muss nicht warten, dass mich jemand “holt“. Wenn in dieser Zeit einer zum Tisch kommt und mich auffordert, bekommt er ein klares nein. So erspare ich sowohl mir als auch einem potentiellen Mr. Gancho unangenehme Momente.

In einem Land, in dem der Cabeceo nicht funktioniert... Na ja, in diese Richtung funktioniert er meistens. Wahrscheinlich, weil Männer nicht so gewohnt sind, dass sie eine Frau fix anschaut, und wenn eine es tut, kommen sie drauf, dass sie was will...

Es ist aber schade, wenn man sich 360 Grad drehen muss, um jemandem auszuweichen, der entschlossenen Schrittes auf einen zukommt, und der es dann schafft, trotz herzhafter Wegschau-Bemühungen vors Gesicht zu erscheinen und zu fragen: “Magst du tanzen?“ Oder – ist wirklich geschehen – “Schaust du weg, weil du nicht mit mir tanzen willst, oder schaust du zufällig weg?“

Mittwoch, 7. März 2012

Apologie des Mr. Gancho


Der ältere Herr aus meinem letzten Beitrag bekam mit der Zeit einen sich selbst erklärenden Übernamen: Mr. Gancho. Er wurde zu einem netten, gern gesehenen Gast in jener Milonga, wurde immer herzlich begrüsst, doch hörte die Herzlichkeit meistens auf, sobald er eine jener Frauen einlud, mit denen er am liebsten getanzt hätte. Anfangs bekam er ausweichende Antworten wie “nicht jetzt, ich bin zu müde“ oder “meine Füsse tun weh“, später musste er sich oft mit einem schlichten “nein“ abfinden. Ich glaube, er hat nie verstanden, wieso.

Es ist auch nicht leicht, zu verstehen. Seine Tanzpartnerin hat wilde Figuren geliebt und hat ihn wohl angestachelt, noch mehr Ganchos und Sacadas zu lernen. Er hielt sich, das konnte man den Gesprächen mit ihm entnehmen, für einen erfahrenen Tänzer. Und das sicher zu recht. Nur – die Erfahrung, die ihm viel Lob von manchen Frauen gebracht hat, brachte andere Frauen dazu, sich hinter der Bar zu verstecken,  sobald er sich näherte. Das ist irgendwie grausam. Und: wie hätte er verstehen sollen, wieso? Keine hat es ihm je gesagt.

Am Schluss des letzten Blog-Eintrags habe ich die Bewegungsqualität eines Schülers gelobt, der zwar nur laufen konnte, aber schön. Ich frage mich jetzt – was, wenn manche Tänzer und Tänzerinnen gar nicht daran interessiert sind, lange, weiche, schwebende Schritte zu machen, sondern bloss ein wenig Spass haben wollen? Was, wenn “ein wenig Spass“ für sie bedeutet, dass man viele Figuren im Unterricht lernt und sie dann irgendwie ausführt? So eine Art mnemotechnisches Spielchen? Was ist so schlimm daran, wenn man andere nicht stört, und man muss hier festhalten, dass Mr. Gancho ein durchaus rücksichtsvoller Tänzer war, der nie gegen die Tanzrichtung ging und keinem je den Weg abgeschnitten hat.

Wenn man ans Fest einer Tanzschule hingeht, wo etwas anderes als Tango getanzt wird, wird einem klar, dass die meisten Paare stolz und selbstverständlich “Schrittchen“ machen. Das Fliegen übers Parkett ist nur für die Profis, und davon gibt es wenige. Die meisten zählen bemüht den Takt, legen im hoffentlich richtigen Moment los, machen die Figur, die sie gelernt hatten, und haben Spass. Das reicht. Vielleicht ist es so, dass es manchen Leuten, die Tango tanzen, genau so reicht. Sie sollten dafür nicht bestraft werden.

Nun... Mr. Gancho fühlte sich zwar ungerecht behandelt, das war aber nicht so. Die Mädchen, die sich vor ihm versteckten, taten es, weil es für sie unangenehm war, mit ihm zu tanzen. So wie er sich entscheiden kann, unvollkommene Sacadas als Gedächtnisspielchen aneinanderzureihen, so kann sich ein anderer dafür entscheiden, die Freude in der schönen Bewegung zu suchen. In der perfekten Verbindung mit dem Partner und der Musik. Dieses süchtig machende Gefühl, jeden Schritt zusammen anzufangen, zusammen zu gleiten und zusammen anzukommen. Wenn es das ist, was einem Freude macht, dann ist das andere qualvoll. So ist das. Und das müsste Mr. Gancho irgendwie verstehen. 

Freitag, 13. Mai 2011

Der Gancho

Vor vielen Jahren, in einem Land, dessen Name nichts zur Sache tut, in welchem es aber so ist, dass die Frauen Männer zum Tanzen auffordern, zumal wenn sie Tanzlehrerinnen sind, war es so, dass ein älterer, einsamer Mann als erster in die Milonga gekommen war und gelangweilt in einer Ecke sass. Natürlich forderte ich ihn auf. Auf dem Weg zur Tanzfläche dachte ich über die bevorstehenden 12 Minuten der Tanda nach, es würden wahrscheinlich nicht die schönsten Tangos meines Lebens werden, aber sie liessen sich bestimmt angenehm gestalten. Und ich dachte weiter: “Dieser Mann investiert Zeit, Geld und Energie, um die Schritte zu lernen, die er zum Tanzen braucht. Er duscht sich vor der Milonga, parfümiert sich und zieht sich nett an, um angenehm zu sein. Er mag kein Wahnsinnstänzer sein. Aber das ist egal. Ich werde ihn mögen.“

Und ich habe ihn gemocht. Wirklich, von Herzen gern gemocht. Bis er mir den ersten Voleo angedeutet hat. Und nach dem ersten Gancho habe ich ihn gehasst. Es blieb natürlich nicht bei EINEM Gancho. Lauter schreckliche Stösse, die in einer organischen Tangosprache nichts heissen, von denen ich aber verstehe “aha, er will, dass ich mein Bein jetzt hoch um seine Hüften schlinge, obwohl er mich aus der Achse schiebt, obwohl es schrecklich unelegant aussehen wird, obwohl es in jeder Hinsicht jenseits von gut und böse ist.“ Was tut man dann? Man verweigert den Gancho und macht stattdessen eine kleine Verzierung. Manche Männer verstehen es sofort, andere wiederholen den Stoss ein paar Mal, bevor sie es merken. Meiner liess nicht nach. Er schob mich erneut, mit einer Kraft, derer ich ihn nicht für fähig gehalten hatte, über sein gebeugtes Knie und sagte dazu: “Doch, doch! Das war ein Gancho! Mach ihn! Komm, mach ihn jetzt!“ Ich schaute ihn verzweifelt an (DAS hätte ich nicht erwartet) und sagte so etwas wie “Ach, weisst du, mein Kleid ist zu kurz. Darum geht das nicht. “Na sowas...“ sagte er. Und machte trotzdem genau so weiter. Da gehen einem folgende Gedanken durch den Kopf: “Vergewaltigt werden wäre schlimmer. Denn so kann ich zumindest die Takte zählen und weiss, wann es vorbei ist... Ausserdem könnte ich nach drei Tangos sagen, dass ich mich um die Musik kümmern muss. Und zum DJ-Pult verschwinden. So bleibt mir ein Viertel der Qual erspart... Zum Glück sind sonst nicht viele Leute da, um mich in diesen ekligen Verrenkungen zu sehen... Ausserdem würde Geraldine Rojas auch mit diesem Mann gut aussehen. Natürlich würde sie nicht mit ihm tanzen. Aber wenn, dann würde sie gut aussehen...“ Manchmal, wenn es zu unerträglich wird, rezitiere ich im Kopf den Anfang der Ilias. Hatte in meiner Schulzeit genug Verse gelernt, um eine ganze langweilige Unterrichtsstunde totzuschlagen. Und die hat 40 Minuten. Eine schreckliche, Tanda, wenn man sie um den letzten Tango verkürzen kann, hat nur neun Minuten. Nur neun...

Wie, um alles in der Welt, kommen manche Leute darauf, dass es im Tango um schlecht ausgeführtes, unästhetisches Bein-origami geht? Natürlich sind Ganchos und hohe Voleos und Sprünge schön, aber man muss sie können. Hart trainieren, damit der Körper beweglich genug ist und die Technik stimmt. Um dann auf einer Bühne zu tanzen. Wenn das nicht geht – kein Problem. Im Tango ist die Akrobatik nebensächlich und vollkommen verzichtbar. Auf jedem Flyer, sei es das der letzten Provinzschule, steht das Zitat gedruckt, das zur Floskel avanciert ist “Tango ist die getanzte Umarmung“.  Wo bleibt die Umarmung, wenn mich einer mit Fingern, Handgelenk und sogar Ellenbogen schiebt um mich zu zwingen, etwas zu tun, das sich schlecht anfühlt?

Natürlich, es gibt Frauen, die davon schwärmen: “Mein Tanzpartner, der führt mich zweifache und dreifache Ganchos.“  Und Voleos, die machen sie selber, mit den Knien schön auseinander, ohne, dass irgendjemand etwas führen muss.

Ich erinnere mich an ein italienisches Pärchen, um die 70, in einer Privatstunde. Der Mann strahlte stoische Ruhe aus, während die Frau die Anleitung gab: “So Schatz, jetzt tust du deinen Fuss hier hin, dann gehe ich drüber und... daaaann... dann mache ich den Gancho!“ Da schaute sie befriedigt zu mir hin als wollte sie sagen “siehst du, sogar DAS können wir schon!“

Kurz nach der schrecklichen Tanda in jenem Land, dessen Name nichts zur Sache tut, tanzte ich mit einem Schüler. Der war noch ganz neu und konnte nichts ausser geradeaus gehen, ins Kreuz führen und ein paar anderen, einfachen Elementen. Aber er tat das so schön, in einer beinahe vollkommenen Umarmung, dass ich die Augen schloss und den Moment geniessen konnte.  Denn wie... so oft im Leben geht es nicht um “was“, sondern um “wie“, und man würde sich so sehr wünschen, dass die Männer es verstehen. 

Mittwoch, 27. April 2011

Umarmung gegen Kampfsport und die halbleeren “milongas flojas“
Teil 2



Anders als im Circuito ist in den halbleeren Milongas der Touristenquartiere alles möglich: Tänzerisch – quer über die Tanzfläche schiessen, die Frau am Tisch auffordern, andere Tanzpaare überholen. Musikalisch: Mariano Mores mit Juan d'Arienzo in der gleichen Tanda. Ausserdem: Offene Umarmung, platzintensive Figuren. Es tanzt jeder mit jedem (na ja, fast...) auch weit mehr als eine Tanda, während der Cortina - falls eine eingeplant ist - wird die Tanzfläche nicht geleert. Da kommt unsereiner nach hause und erzählt. "In Buenos Aires ist es gar nicht so anders..." Realisiert nicht, dass die "Tänzer" dort im Circuito tanzen. Und dass sie nicht ausländerfeindlich sind. Jeder kommt zum Tanzen. Vorausgesetzt, er kann es. Und "Können" heisst: er respektiert die anderen und die Frau fühlt sich wohl in seinen Armen.

Wieso ist es wichtig, sich wohlzufühlen? Weil man für sich tanzt. Und für die Frau. Der Ehrgeiz (und Argentinier haben meist viel davon) ist dann befriedigt, wenn die Frau nach dem Tanzen lächelt. Sollte man für die ANDEREN tanzen wollen, wird man für sich die Bühne in Anspruch nehmen. Wenn schon für die anderen, sollen sie wirklich zuschauen. Man sollte dann so gut sein, dass sie auch zuschauen WOLLEN. Aber eine Gratisshow in der Milonga abziehen, mit hundert anderen Paaren auf der gleichen Tanzfläche? Macht wenig Sinn, oder?

Dann gibt es noch eine Kleinigkeit: die ganzen Regeln in einer traditionellen Milonga. Der Italiener, der in Sunderland zum Tisch geht und die Tänzerin seiner Wahl mit einer eleganten, tanzsimulierenden Bewegung einlädt, wird kaltblutig abgewiesen. Obwohl er wunderbar tanzt. Eine tolle Umarmung hat. Natürlich wird er sich ärgern. Sollte er auch. Aber nicht auf die Frau, die ihn abgewiesen hat, sondern darüber, dass die Leute, die ihm das wunderbare Tanzen beigebracht haben, ihm nicht erklärt haben, wieso die Regeln in der Milonga Sinn machen. Und welche es sind. Keiner spielt z.B. Schach, ohne die Regeln zu kennen. Denn Spielregeln sind nicht da, um die persönliche Freiheit einzuschränken, sondern um das Spiel - und somit die Kommunikation in diesem geschützten Rahmen, indem keiner den anderen  verletzt - überhaupt zu ermöglichen.


Fortsetzung folgt

Montag, 25. April 2011

Umarmung gegen Kampfsport und die halbleeren “milongas flojas“
Teil 1



Als ich in Februar, nach einem Jahr Pause, endlich wieder in Buenos Aires war, dachte ich am ersten Abend: “So schade, lebe ich nicht hier.“ Am dritten morgen dachte ich anders. Ich dachte: “So ein Glück, dass ich nicht hier lebe. In zwei Jahren wäre ich kaputt, gealtert, en la ruina.“ Der Grund dafür ist der Circuito – die Endlosreihe von prestigereichen Milongas, die am Nachmittag um 20:00 anfängt und am nächsten Morgen um sechs mit Kaffe und medialunas in der Viruta endet. Die ganze Nacht, also. Jede Nacht.

Der Circuito war die strengste Tanzschule meines Lebens. Es war Frühjahr 2006, ich war zum ersten Mal, vorerst allein, in Buenos Aires und dachte, ich könne tanzen. Dass es nicht so war, merkte ich während der allerersten Tanda in Sunderland. So eindrücklich, dass ich den ganzen weiteren Abend die Pommes Frites im Teller anstarrte,  in vergeblichem Kommunikationsversuch mit den anwesenden Tänzern “Holt mich nicht. Bitte nicht. Heute nicht. “

Aber das war es. Ein Unglück am ersten Abend, ein grosser Glücksfall alle Abende darauf: Ich wurde aufgefordert. Pausenlos. Wahrscheinlich weil ich hilflos aussah und an den Beschützerinstinkt appellierte. Hatte somit die Chance, zu lernen.  Eines der Momente in meinem Leben, in denen ich sehr dankbar war, weiblich, nicht männlich zu sein.

Erst viele Jahre später, als Lehrerin, ist mir das grosse Dilemma aufgefallen: Neun von zehn europäischen Tänzern werden keine Chance haben, im Circuito zu tanzen. Denn die “vielen Tangos“, die es in Europa gibt, gibt es in Buenos Aires nicht. Es gibt nur einen Tango: Mann, Frau, Umarmung, Musik. Es gibt zwei Gesetze:  “Immer mit der Musik“, und “keiner soll deine Frau berühren“. Was sagen will, dass man die Frau beschützen muss. Sie ist ausgeliefert. Sie sieht nicht, wohin sie läuft. Es kann nicht sein, dass man sie in einen anderen Tänzer hineinmanövriert. Oder in einen Tisch.

An einem Freitag Abend, in Canning, hat man etwa einen halben Quadratmeter Platz für sich. Mit diesem halben Quadratmeter muss man sich langsam, in Tanzrichtung, voranbewegen. Und IN diesem halben, beweglichen Quadratmeter, muss man tanzen. Wie? Gar nicht so schwer: Linksdrehung, Rechtsdrehung, Cortes, Linksdrehung, Rechtsdrehung, noch mehr Rechtsdrehung, Linksdrehung, Cortes... Nur... das können Europäer nicht. Nicht, weil sie doof wären. Aber sie haben oftmals gelernt, geradeaus zu rennen, als würde derjenige gewinnen, der in ein und der gleichen Tanda die meisten Leute überholt hat und den Saal mindestens drei Mal umrundet.

Ich war tief erschrocken, als ich realsiert hatte, dass die Leute, die ich in bestem Wissen und Gewissen, in bestehender Lehrtradition unterrichtet hatte, nicht fähig wären, in Canning zu tanzen. Oder im Cachirulo. Oder im Beso am Sonntag.

Klar ist es einfacher, eine Sacada in offener Umarmung zu unterrichten, als sauber geführte Ochos. Nur – was machen die Leute mit ihrer gegen viel Unterrichtsgeld und mit viel Geduld und Mühe gelernten, offenen Sacada? Folgendes: nachdem sie in Canning  oder Humberto Primo von der Tanzfläche wegschikaniert werden, sich darüber ärgern, dass Argentinier ausländerfeindlich sind, landen sie in den “milongas flojas“ – in den halbleeren Milongas der Touristenquartiere.


Fortsetzung folgt


Aus der Reihe: Das politisch inkorrekte Leben von dekadenten Paradiesvögeln



Die Geschichte von Julia und Vicente
eine Geschichte von Joelle K.


Sie sahen sich zum ersten Mal in Buenos Aires, in der Confiteria Ideal, darin stimmen die beiden Fassungen überein.
“Sie wechselte gerade ihre Schuhe“ erzählt Vic “sie hatte etwas Spezielles. Sie fiel mir sofort auf.“
“Ein Freund aus der Schweiz – er war unser Fremdenführer“ erzählt Julia “ein Freund stellte ihn mir vor. Willst du – sagte er – den Argentinier kennenlernen, in den sich die Frauen verlieben? Und ich dachte – als ich ihn sah – o nein! Kann nicht sein. Dick und klein, eingebildet, schrecklich. Dann tanzten wir miteinander. Da war es um mich sowieso geschehen.“
Das konnte ich nachfühlen. Zu dem Zeitpunkt, da Julia es erzählte, konnte ich dieses “sowieso“ genau verstehen. Ich war ich durchaus der Meinung, dass es um eine Frau geschehen sein musste, sobald Vicente mit ihr tanzte.
Sie sahen sich noch ein oder zwei Male zufällig in den Milongas, danach fingen sie an, sich zu verabreden. Für den Abend. Das heisst, sie gingen nie zusammen hin, sondern getrennt. Weil Vicente überall Habitué war und Julia hübsch, bekamen sie immer sehr gute Tische. Im besten Fall in der ersten Reihe, aber so, dass sie sich gegenüber sassen, mit der Tanzfläche dazwischen. Sie mussten nur noch zueinander schauen, nicken, aufstehen. Dann wartete Julia, bis er bei ihr war, denn eine Frau, die etwas auf sich hält, läuft auf der Tanzfläche nicht zum Mann hinüber.
“Ich wollte nur noch mit ihm tanzen“ erzählte Julia später. “Und er mit mir. Alle anderen, die mich aufforderten, wurden zu Luft. Ich sah sie nicht mehr.“
Vicente lud sie zu einem Kaffe ein. Aber das war das no-go, auf das man sie noch in der Schweiz vorbereitet hatte:
“Wenn einer dich zu einem Kaffe einlädt, ist es so, dass er in Wirklichkeit mit dir ins Bett will. Wenn du annimmst heisst es, dass du auch willst.“
Nicht mal da, wo es ganz klar war, dass beide wollten, nahm Julia an. Denn sie hatte sich zwar verliebt – sehr, sogar - aber sie war treu. Und sie war eben verheiratet. Am letzten Abend trafen sie sich schon um fünf in der Confiteria Ideal und zogen danach weiter, von Milonga zu Milonga, die ganze Nacht durch, um keinen Kaffe trinken zu müssen. Nachdem um fünf auch die Viruta zuging, brachte Vicente Julia in ihr Hotel. Vor dem Eingang küsste er sie. Da dachte Julia darüber nach, dass sie in ihrem Leben noch nie etwas Verrücktes getan hatte. Und entschloss sich, es zu ändern.
“OK“ sagte sie zu ihm “du darfst mit, aber ich werde nicht mit dir schlafen. Du kannst bei mir bleiben, aber mehr ist es nicht.“
“Es hatte doch keinen Sinn “– erzählte sie später “in wenigen Stunden musste ich beim Flughafen sein. Wozu hätte ich es mit ihm weiter kommen lassen sollen? Was hätte es gebracht?“
Sie schliefen nicht miteinander. “Weil sie eben frigide ist“ erzählte mir Vicente. Oder “weil sie eine anständige Frau ist, nicht eine Schlampe wie du.“ Je nach Stimmung.
Am nächsten morgen war sie weg. Auf dem Weg zum Atelier – Vicente hatte vieles verloren, seitdem er alle Nächte durchtanzte, aber damals arbeitete er noch: Nach elf und morgens und nie später als zwei Uhr nachmittags, denn da kann man schon tanzen gehen- Auf dem Weg zum Atelier schaute er zum schmalen Himmelsstreifen über der Altstadtgasse hoch – gerade in jenem Moment flog eine Swissairmaschine darüber. Da überkam ihn tiefe Traurigkeit. Er verlor die Lust zu arbeiten. Viele Monate danach ging er kaum aus dem Haus. In den Milongas sah man ihn nie.
Julia, ihrerseits, versuchte, alles zu vergessen. Konnte sie nicht. Beim Auspacken der Geschenke und vor allem, wenn sie die CD hörte, die sie von Vicente bekommen hatte, brach sie wieder und wieder in Tränen aus.
“was ist los?“ –fragten die anderen.
“nichts“ sagte sie “Erinnerungen.“
Aber es war verdächtig, dass Erinnerungen so intensiv sein sollten. Dann, eines Tages – sie war gerade mit ihrem Mann im Kino gewesen – sagte sie es ihm. Nicht direkt. Und nicht sofort. Und ausserdem war nicht so viel zu sagen. Dass sie sich in ihn verliebt hatte, war eine Sache. Aber geschehen war fast nichts. Sie hatten nicht miteinander geschlafen. Der Ehemann trug es mit Fassung. Man lebe nicht mehr im Mittelalter, sagte er, es käme keine Inquisition, die einen verbrennt, wenn man nicht nach den Prinzipien der Kirche handelt. Er zog demonstrativ, aber guten Mutes, seinen Ehering ab. Man braucht keine Requisiten. Nicht heutzutage. Und eine moderne Ehe ist etwas ganz anderes. Sie braucht vor allem eines: Freiheit. Julia war erleichtert.
In der Nacht wachte ihr Mann auf, ging ins Bad und erbrach. In den nächsten Tagen konnte er nichts essen, nichts trinken, alles, was er schluckte, würgte er wieder hoch. Julia fühlte sich schuld an seiner Misere, aber es gab nichts, das sie tun konnte. Sie konnte sich nicht mehr entlieben.
Sie hatte ihre Freundin aus Bs As, eine Australierin, die schon lange dort lebte und tanzte, damit beauftragt, Vicente zu finden. Nach seiner email-Adresse zu fragen. Die Australierin ging zu jeder Milonga, die man erdenken konnte. Nirgends eine Spur. Sie fragte nach ihm. Keiner wusste was. Hätten sie etwas gewusst, hätten sie auch nichts gesagt, denn das wäre Verrat. Doch das wusste sie nicht. Sie war eben Australierin. Eines Tages, unversehens, lief er ihr über den Weg:
“Hallo, “ – “sagte sie, dich suche ich schon lange! Wo hast du nur gesteckt?“
“Nirgends“ – antwortete er. Keine Lust, auszugehen. Wieso. Ist was passiert ?“
”Nein, nur, dass dich Julia gesucht hat.“
”Julia’” Vicente tat so als verstünde er nichts. ”Ach ja, und wozu?
”Keine Ahnung, vielleicht hat sie Arbeit für dich, in Europa.”
”na gut- sagte er. Dann gib mir ihre Adresse. Wir schauen weiter.”
Sobald er wieder zuhause war setzte er ein yahoo-Konto auf, er hatte damals noch keines. Und schrieb ihr. Halb englisch, halb Spanisch. Sie antwortete und fing an, Spanisch zu lernen. Ab da schrieben sie sich die ganze Zeit. Vicente hatte Gefallen daran und eine besondere Eignung dafür entwickelt. Bald schrieb er nicht nur an Julia, sondern übernahm auch die Korrespondenz anderer Milongueros mit ihren europäischen Geliebten. Wie das gehen konnte, weiss ich nicht, denn die Briefe, die er später mir schrieb, waren schlecht aufgebaut, platt und von ergreifender Einfältigkeit. Aber manchmal entsteht ein Zauber, den man sich nicht erklären kann.
Da gab es Jorge, der auch alle Nächte durchtanzte und nicht arbeitete, weil es sich für einen Milonguero nicht gehört, profanen Tätigkeiten nachzugehen. Jorge hatte eine Holländerin kennengelernt, und als sie weg war, bat er Vic, ihm mit dem Schreiben zu helfen. Vicente nahm an. Später, als sie verliebt zurückkam, lud Jorge, überglücklich, den Freund zum Essen ein. Am Schluss des Abends nahm die Frau Vicente bei Seite:
“gib es zu“ – sagte sie zu ihm – “du hast die Briefe geschrieben, nicht er. Ich bin mir darin ganz sicher.“
Das erzählte er fortan gerne, und Julia erzählte es auch, und ihre Geschichte geht eine Weile gemeinsam weiter. Erst später zweigt sie sich ab in zwei Fassungen.
Julia hatte zugegeben, dass sie sich verliebt hatte. Und, dass sie mit Vicente Korrespondenz führte. Um ihre Ehe zu retten, entschlossen sie sich – Julia und ihr Mann – auf Weltreise zu gehen. Sie kamen nicht weiter als Kuba, da leuchtete ihr ein, dass sie ohne Vicente nicht leben konnte. Sie wollte zu ihm fliegen. Komme was will. Ihr Mann schlug ihr vor, es für zwei Wochen zu versuchen.
“Ich warte auf dich so lange. Wenn du merkst, dass es sich nicht lohnt, komm zurück. Aber ich warte nicht länger als zwei Wochen. Wenn du bis dahin nicht zurückkommst, ist alles aus.“
Julia kam nicht zurück. Sie blieb bei Vicente. Ab da gibt es zwei Fassungen der Geschichte. Denn Vicente hatte nicht damit gerechnet, dass sie wirklich kommt. Und bleibt. Er hatte ihr geschrieben, ja, dass sein Leben ohne sie keinen Sinn mache. Er war über den Massen verliebt und über die Aussichtslosigkeit dieser Liebe verzweifelt. Aber dass sie alles hinschmeissen und nach Buenos Aires kommen würde? Das hatte er gefordert, ja, aber eher... generisch. Nicht wirklich-wirklich.
Sie war jetzt da. Abgemagert und krank. Sie 23, er 49. Hatte sich aber als 35 ausgegeben. Ihre langen, schwarzen, gelockten Haare waren das Üppigste an ihr. Ansonsten sah sie aus wie ein kleiner Junge. Hübsch und scheu, mit grossen blauen Augen. Sie wohnten zuerst in einem Hotel, denn Vicente wollte sie seinen Kindern noch nicht vorstellen. Seiner geschiedenen Ehefrau auch nicht. Dann nahmen sie sich eine Wohnung, zuerst eine schäbige, nachher eine schöne.
“Aber das muss eine schöne Zeit gewesen sein?“ - fragte ich später.
“Ja,“ – sagte er, “aber es war schon damals das Gleiche: sie wollte keinen Sex. Zuerst gar keinen, weil sie krank war. Nachher – eben, wie jetzt. Einmal im Monat. Nicht vor neun, weil da Tag ist. Nicht nach zehn, denn da schläft man. Nicht woanders als im Ehebett, denn für alles gibt es einen Platz und eine Zeit.“
“Und, wenn es so war, wieso hast du nicht früher reagiert? Und Schluss gemacht?“
”Zuerst dachte ich, dass sie sich ändert“ – sagte er. “Dass sie lernt. Und ausserdem hatte ich sie lieb, hatte ein schlechtes Gewissen, weil sie für mich so vieles aufgegeben hatte. Und Frauen für Sex hatte ich immer genügend, das war nie ein Problem.“
Zwei Monate später flog Julia nach Zürich, um sich scheiden zu lassen und alles abzuschliessen. Vicente konnte nicht mit, es war zu teuer. Und er war überzeugt, sie würde nicht zurückkommen.
“Da rief ich an“ erzählte sie später, und – Überraschung – V. war in Miami. Ich habe mich mordsmässig aufgeregt. Kein Geld, um mit mir nach Zürich zu kommen, aber genug Geld für Miami. Aber er hat es kaum ausgehalten, als ich weg war, dachte sogar, ich würde zu meinem Mann zurück. Weil der reich ist und V. arm. Und in Miami hatte er alte Freunde, die führten eine kleine Pension.“
In der anderen Fassung lautete es so: “Eine reiche Amerikanerin – ich kannte sie schon lange – hatte mich nach Miami eingeladen. Flug, 5Sterne-Hotel, jeder Luxus, den man sich vorstellen kann. Nur, um sie zu begleiten. Ich konnte nicht gut weg – Julia war da. Eines Tages sagt sie mir aber, sie müsse nach Zürich fliegen. Um dort ihre Sachen zu regeln. Ich dachte, sie kommt nicht wieder, und ja, ich war schon traurig. Denn offensichtlich war ihr das Geld, das ihr Ehemann hatte, wichtiger. Aber das Gute daran war – ich konnte ganz entspannt und ohne Alibi nach Miami.“
Nicht, dass V. ungeübt darin gewesen wäre, Alibis zu basteln. Aber je weniger man erfinden muss, um die Wahrheit zu verhüllen, desto besser. Die Leute glauben sowieso das, was sie glauben wollen und nicht das, was wahrscheinlich ist.
“War die Amerikanerin hübsch?“ – fragte ich.
“Nein, ” – sagte er. “Aber auch nicht hässlich. Ich hätte sie heiraten können – dann hätte ich mich nie wieder um Geld kümmern müssen. Aber das mag ich nicht. Ich will frei sein”.
“Julia hast du doch schliesslich auch geheiratet.”
“Ja, aber nicht für Geld. Ich hatte ein schlechtes Gewissen. Sie hatte wirklich vieles für mich gemacht. Und hatte sich scheiden lassen. Sie war immer so – geradeaus. Nicht wie du. Keine halben Sachen. Und ausserdem...” – V. zeigte mir seine linke Hand. Fasste mit dem Daumen und Zeigefinger der rechten Hand den Ehering und begann zu drehen. Der Ring bestand aus zwei Teilen – der äussere Teil, aus hellerem Metall, liess sich drehen, während der innere Teil unbeweglich den Finger umfasste. “siehst du”- fuhr er fort. Das Rad der Freiheit. Als ich diese Ringe sah, wusste ich sofort, wir mussten sie haben. Als Symbol dafür, dass meine Freiheit nicht mit dem Ja-Wort enden kann.”
Die Geschichte der Ringe kannte ich schon von Julia, aber anders: “Wir hatten bei einem Goldschmied schon Ringe bestellt. Aber dann sah V. in einem Schaufenster diese beweglichen Ringe. Sie waren so schön, so... speziell, wir wussten sofort: das waren die richtigen. Wir riefen unseren Goldschmied an, er hatte den Auftrag nicht ausgeführt. Mit einem kleinen Unkostenbeitrag liess er sich zufriedenstellen.”
Julia nahm einen Job in einer Sprachschule an. Keine Gruppenkurse, aber sie gab Privatstunden. Ihr Spanisch war nicht gut, aber sie konnte Deutsch unterrichten. Und Englisch. Sie scheint von den täglichen Abenteuern ihres Mannes nichts gewusst zu haben, fand es auch nicht seltsam, dass er abends mit dem Lieferwagen, indem ein Doppelbett installiert war, ins Zentrum fuhr. Und morgens nach hause kam. “Er hat mich sehr gern“ – sagte sie mir später – “und er weiss, dass ich sofort weg bin, falls er mich betrügt. Dass er mich nie wieder sieht. Das riskiert er nicht. Ausserdem ist er extrem eifersüchtig.“
Sie hatten einen Hund, der war klein und hatte lange, helle, gewellte Haare. Vicente ging mit ihm immer am Wochenende spazieren und kam spät zurück, weil er im Chinesischen Viertel halt machte, wo man samstags im Pavillon draussen tanzen kann, was er nicht zugab. Julia wusste Bescheid, aber es war ok – tanzen darf man ja. Dann kam die Krise, Vicente wollte in die Schweiz, Julia nicht, da verkauften sie ihr Haus, packten ihr Baby, setzten den Hund aus und flogen nach Zürich. “In der Schweiz darf man keinen Hund in der Wohnung halten.“ – hatte die Schwiegermutter gesagt.
Ob ich ein schlechtes Gewissen hatte? Nein. Ich habe Julia nicht betrogen, ihr Mann tat es. Den Kontakt zu ihr unterbrach ich so vollständig wie möglich, sobald Vicente und ich eine Affäre hatten. Und ich war auch schlau genug, den Frauen keine Schuld zu geben, mit denen er mich, Jahre später, reihenweise, betrog. Was ich natürlich auch erst spät verstand, lange nachdem auch unsere Geschichte mehrere Fassungen bekommen hatte. Denn vorerst hatte ich meine ganze Phantasie und Geisteskraft eingesetzt, um das zu glauben, was ich wollte. Nicht das, was wahrscheinlich war.

Samstag, 23. April 2011

Die schwarze Katze
Teil 1

Wenn man Cuartito Azul Tango untereinanderschreibt, so, dass die Initialien ein neues Wort ergeben, kann man folgendes lesen: CAT. Das war mir November 2011 aufgefallen, als ich ein neues Logo suchte. Aber die schwarze Katze war schon lange vorher im Cuartito anwesend. Fast von Anfang an.

Es war so: Sobald der Boden gelegt war (das ist eine andere, lange, wunderschöne Geschichte), haben wir die Wände mit Pavatexplatten beklebt und blau gestrichen. Türkisblau, in vielen Untertönen. Die Farbe gemischt aus weisser Dispersion, verschieden blauen Pasten (Acryl, Tempera und was gerade günstig im Hobymarkt zu bekommen war) und Lumigreen, einem faszinierenden, leuchtend gelbgrünen Pigment, das ich für Seife gekauft hatte (und das seinen Weg in alles mögliche hineingefunden hat - Bademilch, Shampoo, Blumenwasser, Cuartito-blau - nur noch nicht in Seife :)

Auf diesem blauen Hintergrund sollten Tangotexte und Zeichnungen kommen, und sie sollten irgendwann wieder übermalt werden - so wie Wortfetzen an Hausfassaden, die von einem nachlässigen Maler in ungefährem Ton mit grobem Pinsel überdeckt werden.

Sobald alles blau war, kritzelte ich ungeduldig und ohne Wasserwage den ersten Text hin, über vier m2 hinweg, und er sah so schrecklich aus, dass er ohne trocken zu werden seinem vorbestimmten Schicksal entgegeneilte: er wurde übermalt. Man erkennt nur noch ganz wenig davon. Ein Künstler musste her, und ein Konzept. 

"Blau sieht aus wie Himmel" - sagte mein Bruder - "wir malen also bunte Paradiesvögel." Die sollten in weissen Wolken-Sprechblasen Tangotexte rezitieren, und damit es nicht zu friedlich werde, würden unten schwarze Katzen lauern.

Ich war begeistert. Die Katze hat eine besondere Bedeutung - die Eleganz. Pferde sind auch elegant. Aber anders. Die Eleganz im Tango ist die einer Katze. Nicht eines Pferdes. Pferde gehen auf den Zehen. Katzen federn ab, auf dem Ballen. Wer sich das deutlich vorstellt, tanzt augenblicklich besser.

Und dann ist noch was. Die schwarze Katze ist sexy. Irgendwie böse. Ein Geschöpf der Nacht. In vielen Tangos wird die unschuldige Schönheit vom Lande von der Jungs der Nachtwelt verführt. Und verdorben. Im Cuartito lauern die schwarzen Katzen auf die bunten, zwitschernden, herumfliegenden Vögel.

Ende 2009 war die Wanddekoration fertig. Im darauffolgenden März hatte es die Katze auf den Flyer geschafft.