Montag, 12. März 2012

Spielregeln... Teil 3

Wir wissen alle, dass es eine Tanzrichtung gibt, wir wissen meistens auch ziemlich genau, welche. Trotzdem geschah es, dass ein Schüler eines Abends zu mir kam und irritiert sagte:

“Es stimmt nicht, was du uns immer sagst!”
“Wie bitte?” fragte ich.
“Das mit der Tanzrichtung. Dass alle in die gleiche Richtung tanzen. Das stimmt ja nicht.”

Ich erhob den Blick von der Musikanlage zur Tanzfläche und das, was ich sah, müsste man sich so vorstellen: Wie wenn zwei verschiedene Kräfte das Wasser in einem Becken in Wellenbewegungen versetzen, die gegeneinander gehen, so, dass sie am Beckenrand zurückgeworfen werden und sich beim zurückrollen wieder überschneiden, so tanzten die Paare buchstäblich ineinander und auseinander, in einer nicht nachvollziehbaren Dynamik, ohne dass eine allgemeine Tendenz oder Hauptrichtung auszumachen gewesen wäre. Mein Schüler hatte Recht. Ich blieb für einige Augenblicke sprachlos.

“Weisst du” – sagte ich, als ich die Stimme wiederfand – “es ist nicht immer so. Es sollte nicht so sein. Warte ab, der Abend beruhigt sich bestimmt.”

Ich suchte für die nächste Tanda die langsamsten, ruhigsten di Sarli-Stücke in meiner iTunes-Bibliothek aus, übersprang die anstehenden Milongas und verzichtete den ganzen restlichen Abend auf d’Arienzo und Biagi. Es wurde besser. Nach der Show gingen viele nach Hause, und die, die noch da waren, tanzten ruhig und geniesserisch, ohne viele Zusammenstösse.

Es war nicht das erste Mal, man hatte mich schon früher der falschen Auskunft bezichtigt.

“Es stimmt nicht, dass man auf einer Bahn, und zwar möglichst auf der äusseren, tanzen sollte. Alle tanzen so, wie es gerade Platz gibt. Vom Rand zum Zentrum und wieder zurück.”

Auch damals war ich sprachlos geblieben, denn jenes Pärchen – zwei begabte Schüler, die mir sehr lieb waren, hatten monatelang im Unterricht geübt, schön um die Tanzfläche herum zu tanzen. Sie kriegten es inzwischen gut hin – umsonst, wie es ihnen erscheinen musste, denn sie hatten Recht. Kaum einer – und es war eine der schönen, zivilisierten Milongas von Zürich – kaum einer tanzte so. Es gab zwar eine Tanzrichtung. Aber keine Bahnen.

Es nützt wenig, zu sagen: In Buenos Aires ist es aber so. Wir sind nicht in Buenos Aires. Sie werden wahrscheinlich kaum, und wenn, dann höchstens alle paar Jahre für zwei Wochen nach Buenos Aires fliegen. Sie müssen hier tanzen können. Und hier heisst es – da, wo es gerade Platz gibt und wenn möglich nicht hinter einem jener Tänzer, die öfter an mehr oder minder blutigen Unfällen beteiligt sind.

Aber eine allgemeine Wahrheit lasse ich mir nicht nehmen:

“Bitte, bitte! Fangt nicht mit einem Rückschritt an! Nie. Ihr könnt kaum wissen, wer hinter euch steht. Seite. Oder vorwärts. Oder – etwas besonderes – rechts an der Frau vorbei. Aber bitte kein Rückschritt.”

Man glaubt es mir. Bis auf einen Schüler, der gerade aus Buenos Aires zurückkam.

“Die Lehrer, bei denen ich Privatstunden nahm, fangen immer mit dem Rückschritt an, wenn sie etwas zeigen. Was soll daran falsch sein? Wenn sie es dürfen, darf ich es auch.”

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