Donnerstag, 21. April 2011


Aus der Reihe: Das politisch inkorrekte Leben von dekadenten Paradiesvögeln:




Die hässliche Frau mit schwarzen Haaren

eine Geschichte von Joelle K.



Anetta ist Dekorateurin bei Falabelli, Anetta heisst sie, nicht Anette, das ist Italienisch, sie hat auch einen italienischen Nachnamen, sie weiss, man sieht es ihr nicht an. "Dekorateurin bei Falabelli ist sie" - sagt Esteban, und fügt hinzu: "die werden sehr gut bezahlt." Er könnte auch sagen: "sie ist bei der NASA", ohne etwas im Gesichtsausdruck oder Tonfall zu ändern. Aber Anetta ist eine liebe Freundin. Eine tolle Frau. Und sie hat das ganze Schaufenster an der Gertrudstrasse 10 bemalt, alles hat sie allein geschrieben und verziert, in vielen, bunten Farben: “El Abrazo” steht jetzt gross auf dem Hauptfenster, in Azurblau mit weissen Schattierungen und darunter steht dick und rot “Tangoschule”, auf der Türe liest man “Tanzschuhe”, in gelb und um alles herum schlingen sich hellgrüne Ranken mit weissen und rosafarbenen Blüten. Anetta hat ein Auge dafür. Sie hat das Design selber entworfen, und dann, an vielen freien Nachmittagen, – sie hatte zum Glück viele freie Nachmittage – hat sie, Farbfleck nach Farbfleck, alles aufs Glas gebracht. Wenn sie nicht gewesen wäre… nein, darüber mag man nicht nachdenken.

—Wieviele Stunden? – frage ich.

—Weiss ich nicht – sagt Esteban.- Viele.

—Ja, aber wenn du ihr als Gegenleistung Tanzstunden geben willst, musst du wissen, wie viele.

—Spielt keine Rolle. -Sagt er.- So viele, wie sie braucht.

—ja, aber…

—Kein aber. Wenn sie nicht gewesen wäre… solche Designer, man kann sie nicht bezahlen. Und dann eine von Falabelli, nicht irgendeine.

Ach so. Mein Cousin kommt auch gratis in den Tanzkurs. Mein Cousin hat kein Schaufenster bemalt, er malt nur Bilder. Keine davon hängen im “Abrazo”, also sind seine Malkünste im Gegensatz zu denen von Anetta in diesem Zusammenhang nicht von Nutzen. Ich hab ihn eingeladen, weil er sich kürzlich von einer bösen Frau getrennt hat, und am Donnerstag Abend kommen viele liebe Mädchen Tango tanzen. Das ist der Deal. Mein Cousin gegen Anetta. Die vielen lieben Mädchen finanzieren ihn.

Zwei Tage vor Kursanfang kommt Anetta auf eine Besprechung vorbei. Eher gross, dunkle, glatte Haare. Helle Haut. Sie trägt einen schwarzen Mantel und einen sehr bunten, langen Halstuch. Stiefel ohne Absatz. Schwarze Strümpfe. Schwarze Bluse. Pinkfarbenen, knielangen Rock. Sie ist erkältet.

—Schau mal -sagt Esteban und hält ihr ein Karton mit Stoffmustern entgegen.- Ich dachte, gelb für die Tischtücher, aber du musst es sagen. Oder vielleicht blau? Oder – hast du eine andere Idee?

Anetta sagt nichts. Sie schaut. Schaut sich, langsam, den Raum an. Vor dem Schaufenster und hinten, vor dem Durchgang, hängen rote Samtvorhänge, raumhoch. An der Seite eine Holzablage in Tischhöhe, wie eine kleine, sehr kleine Bühne, die die Treppe zum Untergeschoss verdeckt. Die ist auch mit Samt verkleidet, rotem Samt, in Falten geworfen wie die Vorhänge, bis zum Boden. Die Tische sind klein und aus Plastik, die sollen auch verkleidet werde.

—Gelb? -fragt Esteban nochmals und grinst. Anetta sagt immer noch nichts. Sie schaut.

“Gelb!”, denke ich und sage nichts, und denke weiter, “wie kann sie so langsam sein.” Es liegt auf der Hand. Blau ist zu dunkel, grün geht nicht. Orange noch weniger.

—Nein. -Sagt sie.- Zu ähnlich mit dem Eichenparkett. Zu ähnlich und zu anders. Beisst sich. Gelb geht nicht. Rot. Die Tischtücher müssen auch rot sein. Wie die Vorhänge.

Ich werfe einen Blick durch den Raum. Verdammt. Sie hat Recht. Vollkommen Recht. Gelb wäre schrecklich. Rot ist die einzige Farbe, die geht. Dann ist alles rot, sehr viel rot. Aber weil alles rot ist, in gleichem Stoff, hängt es zusammen. Ein Element, eine Textur, eine Farbe. Natürlich. Der Raum ist nicht gross, eine Tanzfläche, drum herum die kleinen Tische, die bühnenähnliche Ablage mit vielen grünen Pflanzen drauf, gegenüber raumhohe Spiegel, und dann die roten Vorhänge. In der Mitte eine rechteckige Säule, die wird auch mit Spiegeln beklebt. Eine neue Farbe für die bodenlangen Tischdecken geht nicht. Anetta spricht, Esteban grinst und ich denke: “sie ist gut.”

Etwas fehlt noch am Schaufenster, sie kommt, sobald es draussen wärmer wird. Und dann, die Tanzstunden, die Gegenleistung. Sie kommt in den Gruppenkurs, braucht keine Privatstunden. Sie nimmt ihren Tanzpartner mit, der zahlt, natürlich. Und zwei weitere Paare. Sie will nur nicht zu den Anfängern, sie hat schon so oft angefangen, will nicht noch mal.

—Kein Problem -sagt Esteban lachend- du wirst eine grosse Tänzerin.

Und ich denke “Ja, kein Problem, wieso denn auch – gross bist du schon. Und Tänzerin – dafür ist es zu spät. Auf das Kursniveau kommt es nicht an.” Dann schaut sich die erkältete, pinkberockte, flachbestiefelte Anetta mit den dicken Baumwollstrümpfen noch mal langsam um, sie will ihre Arbeit gut machen, auch wenn sie nicht bezahlt wird, notiert sich alles genau in ihr kleines schwarzes Notizheftlein mit Gummiband. Sie arbeitet für mittelklassige Kaufhäuser, nicht für die NASA. Grosse Tänzerin? Das hat Esteban gesagt. Anetta möchte ein paar Tanzschritte lernen. Bloss nicht die fünf, die sie schon drei Mal gelernt hat, weil sie drei Mal in einen Anfängerkurs ging.

—Komm am Donnerstag -sage ich in plötzlicher Rührung.- Das ist eine tolle Gruppe. Dann macht ihr bestimmt schnell Fortschritte

Anetta bedankt sich herzlich, sie freut sich, und ja, bis am Donnerstag ist sie vielleicht nicht mehr erkältet. Sie packt das kleine Notizheftlein ein, zieht den schwarzen Mantel über, schlingt sich den Schal um den Hals und geht in die Kälte.

Ich denke an Jorgito, den alten, berühmten Tänzer, der letzten Sommer mit mir unterrichtet hat. Wir waren eines Abends in einer Provinzhauptstadt, die hatten eine kleine Milonga, da tanzten wir vor. Die zehnköpfige Tangogemeide war begeistert. Danach setzten wir uns, die Leute tanzten, der DJ versuchte sich nicht lächerlich zu machen, fragte zuweilen, was er auflegen sollte. Da zeigte mir Jorgito ein altes Paar, das sich mit drehenden Hüftbewegungen auf dem Parkett bewegte.

—Schau mal -sagte er- sie versuchen, das zu tun, was wir gerade taten. Aber ihre Hüfte schaffen es nicht. -Klatschte mir eine aufs Bein und lachte. Ich schaute ihn an.

—Lieber Jorge, ist es dir klar, dass wir nichts anderes tun? Aber gar nichts anderes, den ganzen Tag? Du, seit sechzig Jahren. Ich… seit einer Weile. Diese Leute, die haben Enkelkinder. Hund und Katze. Freunde. Vielleicht arbeiten sie sogar noch. Am Nachmittag gehen sie einkaufen. Die Frau kocht. Wenn alle gegessen haben und die Enkelkinder schlafen, gehen sie tanzen. Falls es Samstag Abend ist. Vielleicht jeden Samstag. Vielleicht nur alle paar Wochen. Dann tun sie die paar Schritte, die sie im Kurs gelernt haben und freuen sich. Wenn jemand aus Buenos Aires da ist, jemand, den sie bei genauem Hinschauen auf den alten Bildern erkennen, die an der Wand hängen, freuen sie sich noch mehr. Vielleicht erzählen sie sogar mal ihren Freunden was davon. Aber mehr ist es nicht. Es ist nicht ihr Leben. Sie wollen nicht das tun, was wir gerade taten.

Jorgito verstand es nicht. Kann man sich etwas anderes wünschen, als ein grosser Tänzer zu sein? Esteban versteht es auch nicht. Und ich? Ich verhöhne Anetta, weil sie die Chance verpasst hat. Frage mich gar nicht, ob sie es je gewollt hat.

Mein Cousin kommt auch donnerstags. In den gleichen Kurs, mit der tollen Gruppe. Aber er, er bekommt bald Privatstunden. Mit dem Mädchen seiner Wahl. Damit sie sich näher kommen. Jede würde gern. Privatstunden sind sonst teuer. Mein Cousin kann sich nicht entscheiden. Da ist die zierliche, hellblonde Klara, die tanzt schön. Aber sie ist sicher vergeben, sagt er. Oder Caroline, die Italienerin, die früher Salsa tanzte. Sie hat die schönsten Schuhe und ein hübsches Gesicht. Aber sie hat ein paar Goldzähne, sagt mein Cousin. Goldzähne? Wir lachen beide, das geht nicht. Dann vielleicht Linda, die Deutsche. Sie ist ein bisschen rund und tanzen? Wird sie nie lernen. Aber sie hat lange, blonde Haare, ein nettes Gesicht und strahlend blaue Augen. Sie spricht wenig und bedacht in hoher, freundlicher Stimmlage und ist immer einverstanden. Was will man sonst?

Ich würde also am Donnerstag Linda beiseite ziehen und ihr sagen: “Linda, mein Cousin wird einige Privatstunden nehmen, bei mir, und er braucht eine Tanzpartnerin. Ich habe an dich gedacht. Magst du? Du musst nichts zahlen.”

Der Plan geht aber vorerst nicht auf. Esteban und ich, wir haben uns wieder einmal gestritten. Leider habe ich es versäumt, den Ablauf der Kurse vertraglich und schriftlich festzuhalten, vor dem Streit. So liegt zur Zeit alles in der Luft. Esteban will eine Woche Pause. Der Saal gehört ihm. Es bleibt mir nichts anderes übrig, als ihn die Kurse diese Woche alleine geben zu lassen. Zu hoffen, dass er es schlecht macht. Dass man mich vermisst. Und dann, sobald wir uns wieder versöhnen, den Vertrag aufzusetzen. Esteban wird vor dem Kurs erklären, wieso ich fehle. Er wird anbieten, das Kursgeld zurückzuzahlen, falls jemand mit den Umständen nicht einverstanden ist. Er wird noch sagen, dass wir uns bis nächste Woche entscheiden, ob wir in Zukunft doch zusammen unterrichten oder nicht. Mein Cousin wird dabei sein und mir alles berichten.

Am nächsten Tag rufe ich ihn an und frage alles genau. Zuerst, ob etwa Martha dabei war, die schielende Deutsche, die Esteban als Hilfslehrerin geholt hatte, als ich nicht da war. Die hatte ich sofort gehen lassen als ich zurück kam, versteht sich. Ist schon lange her, aber man weiss nie. Martha war nicht da. Esteban hat allein unterrichtet. Ohne System, aber nicht auffallend schlecht. Nur, dass er niemanden hatte, um vorzutanzen. Er kümmerte sich um jedes Paar, einzeln, es war in Ordnung.

—Und? -frage ich.- Was hat er gesagt? Hat er was erklärt?

—Ja… -sagt mein Cousin.- Aber nur ganz kurz, am Schluss. Er hat gesagt, dass ihr euch getrennt hat, und dass er traurig ist…

—Und, in welcher Sprache? Auf Deutsch?

—Nein, Spanisch. Jemand hat übersetzt. Eine Frau, die Spanisch konnte.

Ich sehe in einem Augenblick alle meine Feindbilder vorbeiflanieren.

—Wer denn, wie hiess sie?

Er weiss es nicht.

—Denk nach, wie sah sie aus?

—Ach, ja… -Mein Cousin erinnert sich. Er lacht.- Eine ganz, ganz hässliche Frau, mit schwarzen, glatten Haaren.

Ich denke nach. Dann, plötzlich, weiss ich es. Es gibt nur eine mit schwarzen, glatten Haaren. Ich konnte sie nicht ausstehen, weil Esteban fand, sie sei eine tolle Frau. Und weil er ihr vorgelogen hatte, sie würde eine grosse Tänzerin werden. Später lud ich sie in den besten Kurs ein, weil doch alles nicht ihre Schuld war. Und jetzt? Jetzt freue ich mich und frage mich zugleich, wie das wäre, wenn jemand mich beschreiben müsste, und das einzige, was ihm einfiele, wäre “eine ganz, ganz hässliche”. Und dazu meine Haarfarbe.

Dann denke ich aber weiter, dass Anetta vielleicht das Glück hat, ausserhalb dieser Scheinwelt zu leben. Dass sie vielleicht nicht nur keine Tänzerin werden will, sondern womöglich auch nicht jeden verfügbaren Augenblick vor dem Spiegel verbringt. Dass sie sich wahrscheinlich bemüht, nett anzuziehen, aber sich nicht immer und ununterbrochen mit jeder Frau vergleicht, die in der Nähe ist, und davor zittert, dass eine einmal hübscher sein könnte. Vielleicht mag sie ihre Arbeit, vielleicht tut sie auch sonst Sachen, die ihr Spass machen, und worin sie einen Sinn sieht. Und vielleicht wird sie morgen einen schönen, erfüllten Tag haben, während ich versuchen werde, aus folgendem Gespräch mit Esteban ein bisschen sinnlose Befriedigung zu holen:

—Hast du am Dienstag mit den Leuten gesprochen? -werde ich fragen.

—Ja. -Wird er antworten.

—Und, auf welcher Sprache? Hast du’s geschafft, auf Deutsch?

—Nein, auf Spanisch. -Wird er sagen.

—Und, wer hat übersetzt?

Er wird nachdenken

—Ach ja, die Dekorateurin. Anetta.

Ich werde schmunzeln. Er wird mich fragen, wieso. Ich werde es ihm nicht gleich sagen. Er wird beharren.

—Na ja, nur, weil ich meinen Cousin gefragt habe…

—Und?

—Er wusste nicht, wie sie heisst. Er meinte bloss, eine ganz, ganz hässliche Frau mit schwarzen Haaren.

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