Freitag, 22. April 2011


DANZA MALIGNA
aus dem Spanischen nacherzählt von Jeanne Kaszian

Nacherzählen. Aber wie? Ich habe eine Geschichte gelesen, die hätte mein sein können. Darum stehle ich sie nicht. Und auch darum nicht, weil sie verloren geht, wenn ich sie nicht wieder erzähle. Sie vermodert wahrscheinlich in einem Büro in Buenos Aires, in einem Umschlag mit einem Namen und einer Nummer darauf. Eine Nummer, die sie vor Diebstahl schützt, bevor sie veröffentlicht ist. Aber Joelle ist wahrscheinlich auch verschwunden, falls es sie denn je überhaupt gegeben hat. Und die Nummer allein ist wertlos.
Es ist die Geschichte von Esteban, und auch die von Ines, und von Joelle, und obwohl es die gleiche Geschichte ist, ist sie drei Mal anders. Was ich am wenigsten weiss, ist wie ich den ersten Teil erzählen soll. Joelle schreibt so, wie es ist. Aber das kann ich nicht. „Gewisse Sachen macht man, man schreibt nicht darüber.“ Hat einer mal gesagt. Stimmt nicht. Ich erkläre gleich, wieso nicht. Aber in einem hat er recht. Man schreibt nicht darüber. Keiner hat es geschafft, sinnvoll darüber zu schreiben. Vargas Llosa hat es versucht. Grässlich. Dafür hätte man ihm den Literaturnobelpreis wieder wegnehmen sollen.
Es gab eine Zeit in meinem Leben, da gab es Wörter dafür. Nicht auf Deutsch, die Sprache ist völlig ungeeignet für alles, was körperliche Liebe beschreibt. Meine Liebessprache war Spanisch. Aber mit allen diesen Teilsprachen verhält es sich gleich: sie gehören einem nur, solange man in ihnen lebt. Und sie taugen als Schriftsprachen nicht, weil andere sie nicht verstehen. Ich meine damit: wenn ich eine Geschichte über einen Architekten schreibe, muss ich zwar erklären, was er macht. Aber es bringt nichts, wenn ich mit Begriffen aus Statik und Vektorenrechnung hantiere, denn die sind für andere wertlos.
Darum ist es so schwierig, über einen Liebeskünstler zu schreiben. Damals, als ich mit einem zusammenlebte, waren mir all die Wörter geläufig, sie hatten keine anrüchige Bedeutung, klangen nicht schmuddelig oder vulgär. Und ich denke, das war die Überlegung von Joelle: sie schreibt, wie es ist, nennt die Sachen beim Namen und gibt ihnen so die Selbstverständlichkeit, die Wörter haben müssen, um konkret zu sein. Aber es geht nicht auf. Oder... ich kann es nicht. Weil ich die Selbstverständlichkeit verloren habe. Wie so viele andere Welten und Wirklichkeiten in meinem Leben.
Es stimmt nicht, sagte ich, dass jeder es tut. Das, was durchschnittliche Leute tun, zwei Mal die Woche, oder wahrscheinlich seltener, ist belanglos. Esteban, dagegen, lebte darin. Es gab in seinem Leben nichts anderes.
Wie erzählt man eine Geschichte nach? Eine Geschichte, die mich so sehr betrifft, weil sie meine sein könnte. Und die so unwirklich ist, weil sie drei Mals anders ist? Wie geht man mit einem Text um, der ständig auf sich selbst verweist, und mit Wirklichkeiten, die so oft ineinander und auseinander gehen, dass es keine Rolle mehr spielt, was real ist, und was nicht?

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