Montag, 25. April 2011

Umarmung gegen Kampfsport und die halbleeren “milongas flojas“
Teil 1



Als ich in Februar, nach einem Jahr Pause, endlich wieder in Buenos Aires war, dachte ich am ersten Abend: “So schade, lebe ich nicht hier.“ Am dritten morgen dachte ich anders. Ich dachte: “So ein Glück, dass ich nicht hier lebe. In zwei Jahren wäre ich kaputt, gealtert, en la ruina.“ Der Grund dafür ist der Circuito – die Endlosreihe von prestigereichen Milongas, die am Nachmittag um 20:00 anfängt und am nächsten Morgen um sechs mit Kaffe und medialunas in der Viruta endet. Die ganze Nacht, also. Jede Nacht.

Der Circuito war die strengste Tanzschule meines Lebens. Es war Frühjahr 2006, ich war zum ersten Mal, vorerst allein, in Buenos Aires und dachte, ich könne tanzen. Dass es nicht so war, merkte ich während der allerersten Tanda in Sunderland. So eindrücklich, dass ich den ganzen weiteren Abend die Pommes Frites im Teller anstarrte,  in vergeblichem Kommunikationsversuch mit den anwesenden Tänzern “Holt mich nicht. Bitte nicht. Heute nicht. “

Aber das war es. Ein Unglück am ersten Abend, ein grosser Glücksfall alle Abende darauf: Ich wurde aufgefordert. Pausenlos. Wahrscheinlich weil ich hilflos aussah und an den Beschützerinstinkt appellierte. Hatte somit die Chance, zu lernen.  Eines der Momente in meinem Leben, in denen ich sehr dankbar war, weiblich, nicht männlich zu sein.

Erst viele Jahre später, als Lehrerin, ist mir das grosse Dilemma aufgefallen: Neun von zehn europäischen Tänzern werden keine Chance haben, im Circuito zu tanzen. Denn die “vielen Tangos“, die es in Europa gibt, gibt es in Buenos Aires nicht. Es gibt nur einen Tango: Mann, Frau, Umarmung, Musik. Es gibt zwei Gesetze:  “Immer mit der Musik“, und “keiner soll deine Frau berühren“. Was sagen will, dass man die Frau beschützen muss. Sie ist ausgeliefert. Sie sieht nicht, wohin sie läuft. Es kann nicht sein, dass man sie in einen anderen Tänzer hineinmanövriert. Oder in einen Tisch.

An einem Freitag Abend, in Canning, hat man etwa einen halben Quadratmeter Platz für sich. Mit diesem halben Quadratmeter muss man sich langsam, in Tanzrichtung, voranbewegen. Und IN diesem halben, beweglichen Quadratmeter, muss man tanzen. Wie? Gar nicht so schwer: Linksdrehung, Rechtsdrehung, Cortes, Linksdrehung, Rechtsdrehung, noch mehr Rechtsdrehung, Linksdrehung, Cortes... Nur... das können Europäer nicht. Nicht, weil sie doof wären. Aber sie haben oftmals gelernt, geradeaus zu rennen, als würde derjenige gewinnen, der in ein und der gleichen Tanda die meisten Leute überholt hat und den Saal mindestens drei Mal umrundet.

Ich war tief erschrocken, als ich realsiert hatte, dass die Leute, die ich in bestem Wissen und Gewissen, in bestehender Lehrtradition unterrichtet hatte, nicht fähig wären, in Canning zu tanzen. Oder im Cachirulo. Oder im Beso am Sonntag.

Klar ist es einfacher, eine Sacada in offener Umarmung zu unterrichten, als sauber geführte Ochos. Nur – was machen die Leute mit ihrer gegen viel Unterrichtsgeld und mit viel Geduld und Mühe gelernten, offenen Sacada? Folgendes: nachdem sie in Canning  oder Humberto Primo von der Tanzfläche wegschikaniert werden, sich darüber ärgern, dass Argentinier ausländerfeindlich sind, landen sie in den “milongas flojas“ – in den halbleeren Milongas der Touristenquartiere.


Fortsetzung folgt

Keine Kommentare:

Kommentar veröffentlichen