Mittwoch, 27. April 2011

Umarmung gegen Kampfsport und die halbleeren “milongas flojas“
Teil 2



Anders als im Circuito ist in den halbleeren Milongas der Touristenquartiere alles möglich: Tänzerisch – quer über die Tanzfläche schiessen, die Frau am Tisch auffordern, andere Tanzpaare überholen. Musikalisch: Mariano Mores mit Juan d'Arienzo in der gleichen Tanda. Ausserdem: Offene Umarmung, platzintensive Figuren. Es tanzt jeder mit jedem (na ja, fast...) auch weit mehr als eine Tanda, während der Cortina - falls eine eingeplant ist - wird die Tanzfläche nicht geleert. Da kommt unsereiner nach hause und erzählt. "In Buenos Aires ist es gar nicht so anders..." Realisiert nicht, dass die "Tänzer" dort im Circuito tanzen. Und dass sie nicht ausländerfeindlich sind. Jeder kommt zum Tanzen. Vorausgesetzt, er kann es. Und "Können" heisst: er respektiert die anderen und die Frau fühlt sich wohl in seinen Armen.

Wieso ist es wichtig, sich wohlzufühlen? Weil man für sich tanzt. Und für die Frau. Der Ehrgeiz (und Argentinier haben meist viel davon) ist dann befriedigt, wenn die Frau nach dem Tanzen lächelt. Sollte man für die ANDEREN tanzen wollen, wird man für sich die Bühne in Anspruch nehmen. Wenn schon für die anderen, sollen sie wirklich zuschauen. Man sollte dann so gut sein, dass sie auch zuschauen WOLLEN. Aber eine Gratisshow in der Milonga abziehen, mit hundert anderen Paaren auf der gleichen Tanzfläche? Macht wenig Sinn, oder?

Dann gibt es noch eine Kleinigkeit: die ganzen Regeln in einer traditionellen Milonga. Der Italiener, der in Sunderland zum Tisch geht und die Tänzerin seiner Wahl mit einer eleganten, tanzsimulierenden Bewegung einlädt, wird kaltblutig abgewiesen. Obwohl er wunderbar tanzt. Eine tolle Umarmung hat. Natürlich wird er sich ärgern. Sollte er auch. Aber nicht auf die Frau, die ihn abgewiesen hat, sondern darüber, dass die Leute, die ihm das wunderbare Tanzen beigebracht haben, ihm nicht erklärt haben, wieso die Regeln in der Milonga Sinn machen. Und welche es sind. Keiner spielt z.B. Schach, ohne die Regeln zu kennen. Denn Spielregeln sind nicht da, um die persönliche Freiheit einzuschränken, sondern um das Spiel - und somit die Kommunikation in diesem geschützten Rahmen, indem keiner den anderen  verletzt - überhaupt zu ermöglichen.


Fortsetzung folgt

3 Kommentare:

  1. Ich kenne die leere milongas flojas – die braucht man nicht suchen. Als Tourist in BsAs bekommt man sie gratis mit dem Hotel, was man vorsorglich aus Deutschland gebucht wird. Ich kenne sie so gut, dass nach 1 Woche BsAs mich fragte: „was mache ich denn hier?“. Ich kenne auch das Circuito. Eines Tages fragte mich mein neuen Freud Pablo: „Gehst du mit mir heute Abend aus?“. Und dann passierte alles wie im Traum – 21:00 – erste Milonga, Cabaceo, tanzen, Cortina, 0,5 qm, ocho cortado, Linksdreheung, Rechtsdrehung, cortado, Cortina, tanzen, nächste Milonge, cabaceo, nächste milonga, cortina, cabaceo, ocho cortado, 7:30 medialunas mit Kaffe, gegen 10:00 schlaffen… Nach eine Woche dieselbe Frage: „was mache ich denn hier?“.

    Ich kenne die Antwort nicht… Seit meinen ersten Besuch in BsAs meide ich die milongas flojas. Cirquito macht mich kaputt, jeden Abend, immer wieder und ich brauch 8 Stunden Schlaf um mich einigermaßen zu erholen. Keine milonga floja kann mir die Momente geben, die ich auf diese 0,5qm erlebt habe.

    Ein wunderbares Blog!

    p.s.Ich habe mir erlaubt ein Zitat von Dir auf „Eine Plauderei über den Tango Argentino“ zu posten (http://tangoplauderei.blogspot.com/2011/06/zum-gefuhlten-widerspruch-zwischen.html). Ich hoffe, Du hast nichts dagegen

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  2. Lieber Sweti, ich hatte deinen Kommentar gar nicht gesehen. Danke! Schön, dass du deine Erfahrungen hier mitgeteilt hast. Lieber Gruss aus Zürich!

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  3. Hoi, klar wir brauchen Regeln damit wir alle dasselbe Spiel spielen. Wie können keine Schachpartie zu Ende führen wenn wir uns nicht vorher einigen welche Schachzüge zulässig sind und was der Sinn und das Ziel vom Spiel ist. Wir können nicht verbal Kommunikzieren wenn die Wörter für uns unterschiedliche Bedeutungen haben. Aber andererseits, wer macht die Regeln? Im Fussball legt die FIFA fest wie gross das Tor sein soll und unter welche Bedingungen es einen Eckball gibt und was der Goalie machen darf. Es gibt aber keine FIFA zum Tango (auch wenn sich manche Tangogrössen wohl für den Sepp Blatter des Tangos halten). Ist es nicht einfach so dass das was die meisten machen und für richtig halten de facto auch richtig ist? Wenn ich auf der Autobahn bin und merke dass mir 100 Geisterfahrer entgegenkommen, muss ich entweder zugeben dass vielleicht ich der eigentlicher Geisterfahrer bin, oder erzähle ich allen irgendwelche eventuell auch stimmige filosofische Gründe weshalb ich doch recht habe und sie unrecht? Im Tango gibt es und wird es immer diesen Kampf geben zwischen Fundis und Realos und auch wenn die Logik und Aesthetik auf der Seite der Fundis ist, werden sie sich nie durchsetzten und kämfen sie ewig gegen Windmühlen. Viel gefährlicher für den Tango als irgendwelche zufällige Falschtänzer ist der sich ausbreitender Kantönligeist. Ich tanze nicht mit Dir weil du nicht so tanzest wie mein Lehrer es mir unterrichtet oder wie in meiner Lieblingsmilonga in Buenos Aires getanzt wird. Lassen wir doch mehr Raum für Individualisten und Querdenker, denn sie machen das Leben interessant. Wenn eine nicht weiss was eine Cabeceo ist, dann tanze ich halt nicht mit ihr. Ist das so schlimm? Muss ich sie deshalb gleich darauf aufmerksam machen dass sie etwas falsch macht? Beim Tango geht es in erster Linie darum dass wir uns entspannen und ein wenig Spass haben. Lasset uns dabei auch hier und da ein wenig von den Regeln Abschied nehmen. Der Alltag ist genug strukturiert und reguliert. Ich habe den Standarttanz verlassen und bin zum tango gekommen weil ich es damals so empfand als könne ich dieses ganze strenge Regelwerk hinter mir lassen. Ich befürchte immer mehr dass dieses Regelwerk mir eingeholt hat.

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